Gisbert Strotdress: Hofgeschichten. Westfälische Bauernhöfe in historischen Porträt, Münster: Landwirtschaftsverlag 2003, 245 S., ISBN 978-3-7843-3226-0, EUR 24,95
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Die Geschichte von 112 westfälischen Bauernhöfen in Einzelporträts - kann man ein solches Buch lesen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Man kann. Denn die Porträts landwirtschaftlicher Betriebe sind mit Bedacht ausgewählt. Sie reichen chronologisch vom Beginn der menschlichen Siedlung bis zur Gegenwart und umfassen Mittelgebirgslagen im Sieger- und Sauerland, das Ruhrgebiet sowie bis heute agrarisch strukturierte Gebiete im Münsterland. Auch das soziale Spektrum ist groß: Es reicht vom Tagelöhnerkotten bis zum großbäuerlichen Schulzenhof und zur staatlichen Domäne. So erhält man ganz nebenbei auch einen Überblick über 2500 Jahre westfälischer Agrargeschichte.
Die in diesem liebevoll gestalteten Band zusammengestellten Beiträge wurden zunächst als Artikelserie von Juni 2000 und April 2003 im Landwirtschaftlichen Wochenblatt Westfalen-Lippe veröffentlicht. Zumeist stammen sie aus der Feder von Gisbert Strotdrees, dem Redakteur der historischen Seiten des Landwirtschaftlichen Wochenblatts, einige stammen jedoch von anderen Autoren, über deren Hintergrund weiter nichts gesagt wird. Als Quellen wurden überwiegend Chroniken und Materialien herangezogen, die sich im Besitz der jeweiligen Höfe befinden. Außerdem wurden Archivalien kommunaler und regionaler Archive sowie die aktuelle Forschungsliteratur ausgewertet. Das Buch schließt mit einer Literaturliste zur Geschichte der westfälischen Landwirtschaft und Agrargesellschaft, mit Adressbüchern, Quellenpublikationen, Nachschlagewerken und Werken zur Hof- und Familiengeschichte in Westfalen.
Die Geschichte eines Hofes wird zumeist auf zwei Seiten geschildert, versehen mit ein oder zwei Abbildungen - aktuellen Fotos oder anderen Materialien wie Karten, Zeichnungen oder historischen Dokumenten. So gibt es zum Beispiel die Geschichte der Neubauerei Peitis Kotten in Exter, Kreis Herford, zu lesen, die 1847, etwa 60 Jahre nach seiner Gründung, noch immer nur eine Kuh, vier Hühner und eine Ziege besaß. Daneben steht das Schicksal prächtiger Schulzen- und Meierhöfe, wie jener von Schulze Balhorn, einst von einer Gräfte umgeben und nur durch eine Brücke erreichbar, die bei Gefahr schnell eingezogen werden konnte. Oder die des Hauses Düsse in Ostinghausen, Kreis Soest, einst im Besitz eines niederländischen Adligen, heute ein landwirtschaftliches Versuchs- und Lehrgut. Auch das Schicksal des mehrfach verkauften Weberkottens aus Angelmodde bei Münster, der heute in einem Freilichtmuseum eine neue Heimat gefunden hat, wird ausgebreitet. Interessante Einblicke bietet die Darstellung von Kloster und Domäne Dalheim bei Lichtenau im Kreis Paderborn, das 1789, in besten Zeiten etwa 309 Hektar bewirtschaftete und darauf 37 Pferde, 931 Schafe, knapp 80 Stück Rindvieh und 180 Schweine hielt. Nach wechselvoller Geschichte, in der es nicht jedem Pächter gelang, die Aufgaben des riesigen Betriebs zu bewältigen, wurde die Domäne im Jahre 1954 zerschlagen und zu 10 Bauernhöfen gemacht. Für die Geschichte der Industrialisierung interessant ist die Entwicklung des Gutes Schede bei Wetter im Ennepe-Ruhr-Kreis, dem Sitz der Familie Harkort, die bereits im 18. Jahrhundert mit dem Bau eines Rohstahlhammers den Beginn der Eisen- und Stahlerzeugung einläutete.
Das Buch vereint mit seinen 112 historischen Bauernhofporträts auch die Geschichte von 112 wirtschaftlichen Unternehmen, denen es in der großen Mehrzahl gelang, über Jahrhunderte zu überleben und damit eine unglaubliche 'Nachhaltigkeit' zu beweisen. Dabei erstaunt, dass die Entwicklungen der einzelnen Höfe, auch solche, die nah beieinander liegen, zum Teil sehr stark voneinander abweichen. Eines aber ist allen geschilderten Höfen gemeinsam: Sie haben ausnahmslos "ein hohes Maß an Brüchen, Verwerfungen und Wandlungen" (5) erfahren. So gibt es Höfe, die zu Klöstern wurden und umgekehrt, Höfe, die die Keimzellen von ganzen Dörfern bildeten und solche, die wie der Söbberinghof in Erwitte das Verschwinden eines Dorfes überdauert haben. Ein häufiger Eigentümerwechsel war keine Seltenheit, nicht nur im Erbfall, wenn der Betrieb an den ältesten oder jüngsten Sohn oder auch einmal an eine Tochter gelangte, sondern auch durch die Einwirkungen der verschiedenen Kriege, durch Verkauf oder anderweitige Vergabe des Lehens. Selbst der Standort der Höfe war nicht immer festgelegt, wie das Kapitel "Wandernde Höfe" belegt.
Die Zusammenfassung der Hofporträts folgt nicht chronologischen oder regionalen Kriterien, auch nicht denen der Größe und Bedeutung, sondern fasst verschiedene Porträts unter Überschriften wie "Ergrabene Höfe", "Kirchen und Klöster", "Jüdische Bauern", "Viele Wege des Verschwindens" oder "Strukturwandel aufwärts" zusammen. So entsteht ein buntes Kaleidoskop von Schicksalen, das man hinter den zum Teil beeindruckend schönen historischen Bauernhoffassaden nicht erwartet. Großer Wert wird auf die Erklärung der Hofnamen gelegt. Damit trägt der Autor nicht nur einem wichtigen Aspekt im Selbstverständnis der ländlichen Gesellschaft Rechnung, denn viele Hofnahmen überdauern bis heute die Namen der einzelnen Hofinhaber. Es gelingt Gisbert Strotdrees damit auch, seine Geschichten tief in einer Zeit zu verankern, in der das gesprochene Wort noch ebenso viel galt wie das geschriebene.
Die Kritikpunkte an diesem Buch sind seiner Entstehung geschuldet: Hat man sich einmal eingelesen, sind die Artikel oft zu kurz, reißen Schicksale der auf ihnen tätigen Menschen nur an, über die man gerne mehr erfahren hätte. Zudem wurden keine Fußnoten gesetzt. Quellen und Literaturverweise werden aber oft im Text mitgeliefert: Die Mehrzahl der benutzten Materialien stammt schließlich aus den Hofarchiven selbst. Immerhin gelang es dem Redakteur des Landwirtschaftlichen Wochenblatts, das selbst auf eine mehr als 150jährige Geschichte zurückblicken kann und oft seit ebenso vielen Jahren von den Hofinhabern gelesen wird, an Materialien zu kommen, die der Wissenschaft in der Regel verschlossen bleiben. Dieser Schatz wurde nun erstmals gehoben. Den Einstieg in das Buch bildet ein Zitat von Adam Smith aus seinem Werk "Buch Über den Wohlstand der Nationen" von 1776, der Fähigkeiten der "niederen Volksklassen" auf dem Lande aufgrund ihrer Vielfältigkeit von denen in der Stadt deutlich abgegrenzt wissen will. Dies mag als Ehrenbezeugung für die Leserschaft des Landwirtschaftlichen Wochenblattes verstanden werden. Notwendig war es nicht. Denn viel deutlichere Worte sprechen die Geschichten der einzelnen Höfe selbst. Ganz sicher haben die "Hofgeschichten" den einen oder anderen Bauern angeregt, auf den Spuren der Geschichte des eigenen Betriebs im Hofarchiv zu kramen. Es könnte auch Historiker anregen, der einmal gelegten Spur zu folgen und näher an ihr Forschungsobjekt 'Agrargesellschaft' heranzurücken.
Rita Gudermann