Rezension über:

Frank Fätkenheuer: Lebenswelt und Religion. Mikro-historische Untersuchungen an Beispielen aus Franken um 1600 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 198), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 395 S., ISBN 978-3-525-35196-3, EUR 56,00
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Rezension von:
Johannes Merz
Archiv und Bibliothek des Bistums Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Merz: Rezension von: Frank Fätkenheuer: Lebenswelt und Religion. Mikro-historische Untersuchungen an Beispielen aus Franken um 1600, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/3723.html


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Frank Fätkenheuer: Lebenswelt und Religion

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Diese in Göttingen entstandene Dissertation tritt in eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsbegriff der "Konfessionalisierung" ein, die, so Frank Fätkenheuer, in der Forschung derzeit als Schlüsselkonzept zum Verständnis der Epoche zwischen Bauernkrieg und Westfälischem Frieden angesehen wird. Der einem Gesamtkonzept für eine Epoche inhärenten Verallgemeinerung stellt sie die Einsicht gegenüber, dass damit die Dynamik und Komplexität der sozialen Prozesse nicht adäquat abgebildet werden könnten. Als Ergänzung und Korrektiv (vergleiche 16) soll daher der Einfluss der Religion im Alltag einzelner Menschen in den Blick genommen werden. Für die angestrebte "Untersuchung der individuellen Lebenswelt" seien entscheidend "die Wahrnehmung des Einzelnen, seine Interpretation der sozialen und natürlichen Umwelt sowie die Darstellung und Bewertung des Zeitgeschehens" (14, vergleiche 54). Man könnte im Blick auf ähnliche Untersuchungen [1] auch von einem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz sprechen.

Als Quellengrundlage dienen in erster Linie Selbstzeugnisse (15) aus dem Bereich des Hochstifts Würzburg und des Markgraftums Brandenburg-Ansbach (18 f.). Der Autor versteht darunter offensichtlich tagebuchartige Aufzeichnungen. Die hier verwendeten betreffen den Zeitraum von 1558 bis 1618 und sind in Anlage und Umfang äußerst verschieden: Sie reichen von der relativ knappen Aneinanderreihung einzelner Daten bei zwei Vertretern der Würzburger Handelsfamilie Rüffer über umfangreichere, aber auf selektive Lebensbereiche bezogene Aufzeichnungen des bischöflichen Botenmeisters Adam Kahl und des Würzburger Handwerkers Jakob Röder bis hin zur umfassenden Dokumentation zahlreicher Ereignisse des Alltags durch den markgräflichen Pfarrer Thomas Wirsing in Sinbronn. Am Ende steht die Schilderung der Konflikte des markgräflichen Pfarrers Thomas Junius mit seiner Gemeinde Mönchsondheim 1614-1627 anhand von Akten. Letztere werden ausdrücklich nicht als Selbstzeugnisse betrachtet (299), obwohl in ihnen der Pfarrer im Sinne von so genannten Ego-Dokumenten vielfach Aussagen über sich trifft. Für die Definition des Begriffs "Selbstzeugnisse" genügt dem Autor jedoch im Wesentlichen ein ausführlicher Fußnotenverweis auf einschlägige Sekundärliteratur (41 f., Anmerkung 7).

Die Analyse des "alltäglichen" Verhaltens der betrachteten Personen besticht durch den vorsichtigen und differenzierten Umgang mit den ausgewählten Quellen, die noch durch ergänzende Archivalien angereichert werden; es befremdet nur ein gewisses Durcheinander von unnötigen (213, 222, 289), fehlenden (216) und falschen Texterklärungen (235) beziehungsweise widersprüchlichen Lesarten (213 mit Anmerkung 77 zu 280, Anmerkung 1). Die quellenbezogene Vorgehensweise wird getragen durch eine sehr gute Kenntnis des Forschungsstandes sowohl zu den allgemeinen Fragen wie zur gewählten Region Franken. Die Auswahl der Archive und der Quellen wird freilich nicht näher erläutert. So wären zum Beispiel im nicht benutzten Staatsarchiv Nürnberg ergänzende Informationen zu den Dörfern Sinbronn und Mönchsondheim zu erwarten gewesen. Problematisch erscheint mehrfach die Begrifflichkeit, wenn etwa unvermittelt von "altkatholisch" und "Altkatholiken" die Rede ist (zum Beispiel 83, 87 f.) oder der gerade in Elitenkreisen stark verbreitete Prodigienglaube zur undefinierten Kategorie "Volksreligiöses" geschlagen wird (vergleiche zum Beispiel 160-163).

Die Zusammenstellung der ausgewählten Personen zeigt sehr deutlich den Facettenreichtum in der konfessionellen Haltung, die nicht nur unterschiedlich stark ausgeprägt war, sondern sich zuweilen nur auf bestimmte Lebensbereiche bezog und oft von anderen Alltagsfragen zugedeckt werden konnte. Die hier nur anzudeutenden vielfältigen Beobachtungen werden noch angereichert durch die fundierte Kritik an einer allzu häufig anzutreffenden oberflächlichen Quellenauswertung, etwa der Visitationsberichte. Wenn man unter Konfessionalisierung tatsächlich versteht, dass die gesamte Gesellschaft des damit bezeichneten Zeitalters zutiefst und umfassend von der konfessionellen Frage geprägt wurde, dann sind die in diesem Band behandelten Aspekte treffend geeignet, dieses Bild zu erschüttern. Allerdings wurde schon in zahlreichen anderen Arbeiten, etwa in der auch vom Autor zitierten Studie Anton Schindlings [2], festgestellt, dass die Konfessionalisierung sich nicht überall gleich ausgewirkt und für die einzelnen Menschen nicht immer die zentrale Rolle gespielt hat.

Darüber hinaus ist insgesamt ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Fragestellung und Vorgehensweise zu erkennen. Die Analyse von Selbstzeugnissen (persönlichen Aufzeichnungen) ist zweifellos ein lohnendes Unterfangen für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit. Wenn es jedoch wie hier erklärtermaßen darum geht, das Konfessionalisierungsparadigma durch die Untersuchung individueller Lebenswelten in seiner Tragfähigkeit auszutesten, dann erscheint die starke Konzentration auf eine bestimmte Form von Ego-Dokumenten zu eng. Angesichts großer Fortschritte in der Erhebung lebensweltlicher Bezüge durch den Rückgriff zum Beispiel auf Chroniken, Reiseberichte, Leichenpredigten, amtliche und private Korrespondenzen, Geschäfts- oder Gerichtsunterlagen ist heute ein viel breiterer Ansatz möglich und sinnvoll, was auch der letzte vom Autor behandelte Fall des Thomas Junius andeutet. Aber auch die "Quellengattung" der Selbstzeugnisse steht trotz zahlreicher Bezüge auf diesen Begriff nicht wirklich im Zentrum der Arbeit; dafür fehlen sowohl die begrifflichen Klärungen als auch die Formulierung grundsätzlicher Erkenntnisse. Bleibend ist jedoch in jedem Fall das Verdienst des Autors um die Interpretation von Lebenszeugnissen der sechs behandelten Vertreter der Wirtschafts- und Bildungselite.


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa jüngst Frank Kleinehagenbrock: Die Grafschaft Hohenlohe im Dreißigjährigen Krieg. Eine erfahrungsgeschichtliche Untersuchung zu Herrschaft und Untertanen (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B; 153), Stuttgart 2003.

[2] Anton Schindling: Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: ders. / Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung VII (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung; 57), Münster 1997, 9-44.

Johannes Merz