Michael Wildt (Hg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführes SS, Hamburg: Hamburger Edition 2003, 387 S., ISBN 978-3-930908-84-4, EUR 25,00
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Der vorliegende Sammelband umfasst 14 Aufsätze, die auf eine Tagung des Hamburger Institutes für Sozialforschung im Oktober 2001 zurückgehen. Sie werden eingeleitet durch einen Beitrag von Michael Wildt, der einen Überblick über Aufbau, Durchsetzung gegenüber Konkurrenten, die verschiedenen Radikalisierungsschübe und die Herrschaftssicherung gibt. Leider fehlt dem Sammelband eine explizite innere Gliederung, doch befassen sich vier Beiträge vorrangig mit dem Personal des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD). Sie reichen von der Frühphase, die von George C. Browder beleuchtet wird, bis zu den Nachkriegskarrieren ehemaliger SD-Männer, mit denen sich der interessante Beitrag von Lutz Hachmeister beschäftigt. Ganz überwiegend fanden diese Männer schnell ihren Weg in die bundesrepublikanischen Institutionen, was nach Hachmeister weniger auf eine weltanschauliche Kontinuität zurückzuführen ist, sondern vielmehr darauf, was die SD-Akademiker als Typus auszeichnete: Durchsetzungsvermögen, zweckrationales Handeln und Belastbarkeit. Diese Fähigkeiten und ausgeprägte männerbündische Kameraderie erwiesen sich auch beim Aufbau der Bundesrepublik als nützlich.
Unter der Überschrift "Personal" wäre außerdem die Studie von Christian Ingrao zur nationalsozialistischen Militanz deutscher Studenten zu nennen und der Beitrag von Carsten Schreiber über regionale Verfolgungsnetzwerke des SD in Sachsen hervorzuheben, der erstmals die Herrschaftspraxis des SD auf regionaler Ebene untersucht. Schreiber kann in seiner Abhandlung zeigen, dass der SD als Personenverband fungierte und über dieses Netzwerk jene Informationen sammelte, die für die von ihm angestrebte "lebensgebietsmäßige" Erfassung der Gesellschaft entscheidend waren. Als ehrenamtlich tätige V-Leute wurden dafür Personen des öffentlichen Lebens, Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft, Behördenchefs und politische Leiter der NSDAP gewonnen. Ihnen, die sich im dienstlichen Alltag nicht selten in einem Konkurrenzkampf befanden, bot der informelle Umgang Gelegenheit, sich für die "gemeinsame Sache" zu engagieren. Deutschen Juden, die in den Finanzverwaltungen, Arbeitsämtern oder Industrie- und Handelskammern mit Amtsträgern zu tun hatten, die über ihre Geschicke entschieden, saßen nicht selten V-Leute des SD gegenüber, ohne dass ihnen dieses bewusst gewesen wäre.
Ein weiterer Block von Untersuchungen beschäftigt sich mit Aspekten nachrichtendienstlicher Tätigkeit, die in die frühen 1930er-Jahre zurückreichen: Wolfgang Dierker befasst sich mit der Kirchenpolitik, sah der SD doch vor allem in der katholischen Kirche einen weltanschaulichen Gegner, da sie unter religiöser Tarnung die Grundsätze der nationalsozialistischen Weltanschauung - Rasse, Führer, Volk und Reich - infrage stelle. Jürgen Matthäus zeigt, wie der SD die "Judenpolitik" nutze, um die eigene Position, nicht zuletzt gegenüber der Gestapo, abzusichern und auszubauen, bis mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) die Voraussetzung für die europaweite "Endlösung" geschaffen war.
Weniger im "Judenreferat", aber in vielen anderen Abteilungen des SD fällt der hohe Anteil von Akademikern auf. Speziell um Geisteswissenschaftler im SD geht es in den Beiträgen von Gerd Simon zur Germanistik und Joachim Lerchenmüller zur Geschichtswissenschaft. Bei der Betrachtung der Hochschul- und Forschungspolitik zeigt sich nicht zuletzt, dass die vom Amt VII beschafften Unterlagen zur "Gegnerbekämpfung" von den Historikern im SD als Materialgrundlage für Qualifizierungsschriften verwendet wurden. Auf entsprechende Phänomene hat auch Dierker bereits im Kontext der SD-Kirchenpolitik hingewiesen. Die "Materialgewinnung" des SD ist dann auch das Thema von Jörg Rudolph, der mit seinem Beitrag zu den Raubakten für die "Gegnerbekämpfung" gewissermaßen die Überleitung zum nächsten Themenkomplex bildet, der SD-Tätigkeit in den Kriegsjahren.
Hier finden sich Untersuchungen zum Auslands-SD in Italien (Katrin Pähler), zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit der Einsatzgruppe D (Andrej Angrick), zu dem einheimischen Sicherheitspersonal des SD in den besetzten Ostgebieten (Ruth Bettina Birn) sowie zum bisher so gut wie nicht untersuchten "Unternehmen Zeppelin", dem Klaus-Michael Mallmann nachgeht. Hinter diesem Tarnnamen verbargen sich die Subversionsaktivitäten des Auslands-SD, der antikommunistisch orientierte sowjetische Kriegsgefangene hinter der Front Sabotageakte durchführen ließ, wobei das Unternehmen jedoch nicht nur an fehlenden Ressourcen, sondern mehr daran scheiterte, dass es sich "in seinen eigenen ideologischen Parametern" (345) verfing.
Anregend ist auch der Beitrag von Andrej Angrick, der der Frage nachgeht, ob die Einsatzgruppe D, mit der sich primär die Erinnerung an ihre Mordtaten verbindet, überhaupt SD-spezifische Aufgaben wahrgenommen hat. Zur Beantwortung untersucht Angrick die Berichterstattung der Einheit über die Behandlung der Ukrainer durch die Rumänen, die Volksdeutschen in Transnistrien, die Kirchenfrage im Einsatzgebiet sowie die Rekrutierung von Krimtataren und kann dabei zeigen, dass in der Tat die Kenntnisse, die sich die Einsatzgruppe durch ihre SD-Tätigkeit erworben hatte, zum Beispiel in der Kirchenfrage, aber besonders auch bei der Betreuung der Volksdeutschen genutzt wurden. Angrick kommt daher zu dem Schluss, das das Mordprogramm dieser Einheit nicht ausschließlich als freigesetzter Rassismus zu sehen sei, sondern als Beitrag zur Realisierung jener völkischen Utopie, deren erster Schritt in der Vernichtung des weltanschaulichen Gegners bestand, bevor die Besiedlung des neu eroberten "Lebensraumes" beginnen konnte.
Die einheimischen Hilfspolizeieinheiten der Sicherheitspolizei stehen im Mittelpunkt der Darlegungen von Ruth Bettina Birn. Als Folge des chronischen deutschen Personalmangels entstanden einheimische Ermittlungseinheiten zum Beispiel beim BdS Belgrad, beim KdS Estland oder auch bei der KdS-Außenstelle Saporoshje in der südlichen Ukraine. Als Motive dieser Zusammenarbeit nennt Birn neben materiellen Interessen und Teilhabe an der Macht vor allem politische Überzeugungen wie Kommunistenfeindschaft. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Birn bei der Betrachtung der Motive von Esten, Serben, Russen oder Ukrainer zumeist von der negativ konnotierten "Kollaboration" spricht, in Bezug auf die deutschen Kräfte jedoch den neutraleren Begriff der "Kooperation" wählt.
Im Hinblick auf die Begrifflichkeit sei außerdem angemerkt, dass einige Beiträge von der "Tschechischen Republik" oder von "Tschechien" (zum Beispiel 19, 23, 223) sprechen, wenn es um das ehemalige Protektorat geht. Sinnvollerweise kann man jedoch diese Begriffe erst für den tschechischen Nachfolgestaat der Tschechoslowakei nach deren Zerfall 1993 verwenden.
Insgesamt ist das vorliegende Werk typisch für das "Genre" der auf Tagungen zurückgehenden Sammelbände und vereint Beiträge, deren wichtigste Ergebnisse bereits veröffentlicht worden sind, und solche, die in thesenartiger Verdichtung neuere Forschungsprojekte vorstellen. Man erhält so eine gelungene Zusammenschau der aktuellen Forschung zum SD, die vor allem zweierlei deutlich macht: zum einen, dass die weltanschauliche Prägung bei den SD-Angehörigen handlungsleitend war, zum anderen, dass sich Theorie und Praxis gegenseitig verstärkten, sei es im Reich, zum Beispiel in der Konkurrenz zur Gestapo, oder im Krieg, wie das Beispiel der SD-Tätigkeit der Einsatzgruppe D gezeigt hat.
Tatjana Tönsmeyer