Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, XVIII + 709 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-525-55349-7, EUR 86,00
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Es ist eine beliebte Rezensentenfloskel, über ein Buch zu sagen, man werde in Zukunft nicht daran vorbeigehen können, wenn man sich mit Thema X oder Y beschäftige. Abgesehen davon, dass diese Aussage fast immer stimmt, soll sie ein "Standardwerk" kennzeichnen - eine Textgattung, die eigentlich erst im Auge des Betrachters, vulgo: in der Rezeptionssituation entsteht, die aber manchmal auch intentional angelegt ist. Das hier zu besprechende Buch will ein Standardwerk sein, und das ist es auch. Niemand, der sich in Zukunft mit dem Pietismus beschäftigt, wird an ihm vorübergehen wollen.
Eine zweite beliebte Floskel gerade bei Sammelbänden ist die Aussage, sie seien von ausgewiesenen Experten verfasst worden. Auch dies stimmt im Falle des vierten Bandes der Geschichte des Pietismus in vollem Umfang. Von Martin Brecht über Hartmut Lehmann bis zu Johannes Wallmann, um nur die bekanntesten zu nennen, schreibt hier fast jeder, der in der deutschen Pietismusforschung einen Namen hat. Dies wiederum macht die Rezensionssituation etwas delikat: Hatte Wallmann dem ersten Band noch eine kritische Besprechung gewidmet und damit einen Außenstandpunkt markiert [1], scheint es beim vierten Band schwer vorstellbar, "ausgewiesene Experten" zu finden, die nicht an diesem Unternehmen beteiligt sind. Das ist natürlich von Vorteil für die Qualität des Buchs. Aber es wird schwierig sein, Rezensenten zu finden, die ausgewogen Stellung nehmen können, zumal das weite thematische Spektrum des Buchs die Kompetenz jedes einzelnen Forschers, sei er Theologe, Literaturwissenschaftler oder Historiker, sprengt.
Anders als die ersten drei Bände, die chronologisch oder geografisch orientiert waren, soll der vierte Band systematische Aspekte des Themas abdecken. Waren die früheren Bände damit häufig historisch spezifischer, ist dieser vierte Band thematisch am weitesten. Gewisse Wiederholungen gegenüber den vorangegangenen Bänden sind dabei unvermeidlich. Der Band führt aber am weitesten weg von der Konzeption des letzten großen Standardwerks, Albrecht Ritschls dreibändiger Pietismusgeschichte aus den 1880er-Jahren. Denn das, was hier zu finden ist, könnte heute niemand alleine verfassen: Der Band bietet nicht weniger als gewichtige Bausteine einer umfassenden Sozial- und Kulturgeschichte des (vor allem deutschen) Pietismus; dies ist gerade dann am interessantesten, wenn nicht abgeschlossene Forschungsberichte vorgelegt werden, sondern Bereiche erkundet werden, deren Erforschung erst begonnen hat. Denn während Themen wie Gebets- und Erbauungsliteratur, der Einfluss des Pietismus auf die Dichtung, die pietistische Psychologie oder Vergemeinschaftung klassische Themen der Forschung darstellen - denen die Autoren aber oft neue Aspekte abgewinnen -, gilt dies viel weniger für Themenbereiche wie Medizin und Naturwissenschaft, Technik, Wirtschaft, bildende Kunst und Philosophie. Auch das Forschungsfeld der pietistischen "Spezialsemantik" wird aufgespannt; der Leser erfährt neben vielem anderen, dass die schönen deutschen Worte "Eigenheit", "Wirksamkeit", aber auch "Beschaulichkeit" viel beargwöhnte pietistische Neologismen des frühen 18. Jahrhunderts sind.
Worin besteht, um in der Terminologie zu bleiben, die "Eigenheit" des Pietismus? Um diese "Eigenheit" - was ist Pietismus, wo beginnt und endet er zeitlich wie thematisch? - drehte sich Wallmanns Kritik am ersten Band. Hartmut Lehmann weist im Vorwort zum vierten Band darauf hin, dieser folge "ohne Abstriche" (VI) der Konzeption der Vorgängerbände. Das heißt: Es wird ein bereits sehr offener Pietismusbegriff vorgegeben, dem die Autoren dann mehr oder minder folgen. Die häufig eher frömmigkeits- und theologiegeschichtlich akzentuierte Diskussion um einen weiten und einen engen Pietismusbegriff ist nicht abgeschlossen, aber die Autoren gehen erfreulich pragmatisch damit um. Pragmatisch heißt nicht lax: Die Diskussionen der letzten zehn Jahre haben im Gegenteil zum Ergebnis geführt, dass es "den Pietismus als einheitliche, klar abgrenzbare Gestalt, als eine sich selbst als Einheit begreifende Bewegung [...] nie gegeben" habe (346); sie haben aber auch gezeigt, dass alte Vorstellungen zum Beispiel zur angeblich "pietistisch" induzierten Individualisierung in Literatur und Psychologie oft sehr vereinfachend sind. Die diese Themen betreffenden Aufsätze von Hans-Jürgen Schrader und Horst Gundlach sind denn auch instruktive Beispiele eines sorgfältigen Umgangs mit Forschungsbegriffen.
Nähe und Ferne des Pietismus zu anderen religiösen Bewegungen, aber auch zu außerreligiösen Phänomenen sind das Leitthema des Bandes. Lehmann markiert als Forschungsaufgabe noch einmal die seit einem halben Jahrhundert anstehende vergleichende Erforschung von deutschem Pietismus (im engeren Sinne) mit anderen Reformbewegungen wie Jansenismus, Puritanismus oder Chassidismus, aber auch den evangelischen Freikirchen (10), die in diesem Band nicht in Angriff genommen werden konnte, hier aber vielfältige Anregungen finden müsste. Häufig verweisen die Autoren auf die Schwierigkeit, "Einflüsse" der pietistischen Frömmigkeitsbewegung auf mehr oder minder religionsfremde Bereiche nachzuweisen oder gar genetische Herleitungen aufzuzeigen. Gerade im pragmatischen Umgang mit dem Pietismusbegriff zeigen sich aber die Nah- und Fernwirkungen, die Unschärfen und Vermischungen, die sich aus der Verbindung der von Arndt und Spener in Gang gesetzten Entwicklung mit der pietistisch so genannten "Welt" ergaben. Letztlich kommt es nicht darauf an, ob man ein Phänomen als "pietistisch" stricto sensu klassifizieren kann. Wichtiger sind die vielfältigen Hinweise auf Verbindungslinien und Kommunikationen, auf die vergesellschaftende Kraft von Religion und ihre individuellen Aneignungen, auf die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Dies gilt umso mehr, wenn man sich nicht mit einer "Theologie" des Pietismus beschäftigen will, sondern, wie im vorliegenden Band, mit seinen kultur- und sozialgeschichtlichen Auswirkungen, mit "Glaubenswelt" und "Lebenswelten".
Die "Wirksamkeit" des Pietismus vor allem im 18. und 19. Jahrhundert ist so vielgestaltig, dass sich manche Passagen des Buches geradezu als deutsche Gesellschaftsgeschichte aus dem Blickwinkel des Pietismus lesen lassen. Die Beiträge zum 20. Jahrhundert wirken dagegen zufälliger; vor allem dem Beitrag Rudolf von Thaddens zu Pietismus und Politik, der sich ganz auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt, hätte durchaus eine "Vorgeschichte" gut getan. Es ist hier nicht der Raum, um die vielen für Forschung und Lehre anregenden Aspekte, die in angenehm knappen Aufsätzen präsentiert werden, eingehender zu präsentieren. Dennoch sei auf einige Artikel gesondert hingewiesen: Wallmann arbeitet in seinem Beitrag zur pietistischen Haltung gegenüber den Juden anschaulich heraus, dass Spener und die ihm folgenden Theologen durch eine halbierte Lutherrezeption diesen erfolgreich geradezu als Judenfreund stilisierten; das heute eher bekannte Bild des Luther'schen Antijudaismus sei dagegen auf eine Akzentverschiebung zurückzuführen, die erst im 19. Jahrhundert einsetzte. Walter Sparn skizziert Konvergenzen und Bruchlinien des Verhältnisses von Pietismus und Philosophie; ausgehend von Franckes Verhältnis zu Thomasius stellt er noch einmal die Ambivalenz zwischen Aufklärung und Pietismus heraus. Andreas Gestrichs Beitrag zu Ehe und Familie zeigt deutlich, was innerhalb "des Pietismus" möglich war: die konservativen Strategien der Orthodoxisierung nach einer relativ offenen Anfangsphase und ein Spektrum, das vom sympathischen Spinner bis zum verklemmten Dunkelmann reichte. Dass dies alles als "pietistisch" klassifiziert werden kann, hat wiederum zu tun mit der Weite des Begriffs, der eben nicht auf einer einheitlichen Selbstwahrnehmung beruht, sondern offenbar auf einer breit geteilten, aber je unterschiedlich gefüllten Terminologie von "Bekehrung", "Wiedergeburt" und Gegnerschaft zur "Welt". Insofern ist das von Lehmann angesprochene Forschungsdesiderat der Kommunikation von Pietisten nach innen und nach außen (13) besonders schmerzlich anzumerken: Denn man wüsste schon gern mehr über die gegenseitige Kenntnisnahme und Einschätzung verschiedener Pietismen, über ihren Kontakt zueinander und damit letztlich auch über ihre Selbstdeutung.
Dass man dies wissen will, es aber aus dem vorliegenden Band nicht erfährt, ist ihm nicht anzulasten; die Autoren machen erfreulich deutlich, was bisher gesichertes Wissen ist, was dies nicht ist (aber vielleicht bis vor kurzem war) und was man alles noch wissen möchte. Die auch in diesem Band beklagte, angeblich schlechte Forschungslage ist so desolat nicht. Schon der nahe liegende kirchengeschichtliche Vergleich mit der Epoche der lutherischen Hochorthodoxie von circa 1550-1650, für die ein vergleichbares Standardwerk nicht vorliegt, zeigt deutlich, dass es um die Pietismusforschung in Deutschland nicht schlecht bestellt ist. Sie ist im Gegenteil rege und manchmal kontrovers. Dies zeigen die Beiträge ausgewiesener Experten gerade dort, wo sie terminologisch unterschiedlich vorgehen oder sich gar widersprechen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Johannes Wallmann: Fehlstart. Zur Konzeption von Band 1 der neuen Geschichte des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), 218-235.
Matthias Pohlig