Winfried Freund: Abenteuer Barock. Kultur im Zeitalter der Entdeckungen, Darmstadt: Primus Verlag 2004, 240 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-89678-492-6, EUR 29,90
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Seit je stellt es die Kulturwissenschaften vor Schwierigkeiten die Gegenstände ihres Interesses einem breiteren Publikum näher zu bringen. Zumal die Literatur des Barock nach wie vor unter dem odium des Fremden, schwer Verständlichen leidet. Der Professor für Literaturdidaktik Winfried Freund wählt einen ungewöhnlichen Weg und arbeitet an einem traditionellen Korpus die zugänglicheren Seiten der Epoche heraus.
Nichts weniger als eine Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts soll sein "Abenteuer Barock" bieten, freilich keine "im herkömmlichen Sinn": "Vielmehr geht es ihr um die Frage nach der Aktualität barocken Dichtens und barocker Lebenskultur [...]. Nur solche Autoren und Werke sollen daher zur Sprache kommen, die weiterhin historische Antworten auf aktuelle Fragen geben können" (7). Das methodisch nicht abgesicherte Kurzschließen von Barock und Gegenwart erweist sich als Movens - und Crux - des gesamten Buches: Die Überlegung, ob nicht anthropologische "Konstanten" nur historisch modifiziert fassbar werden können und dementsprechend differenziert darzustellen wären, klingt kurz an, wird dann aber zu Gunsten simpler Ursprungsvorstellungen verdrängt.
Und das hat Folgen: zum einen zeichnet Freund die Barockzeit, unausgesprochen im Anschluss an das heroisierende Renaissance-Bild Jacob Burckhardts, reichlich idyllisch als Wendung zurück in die sinnenfrohe Welt der Antike, kombiniert allerdings mit kantischen Anklängen: "Barock ist Ausbruch und Aufbruch zugleich. Ausbruch aus dem Getto der religiös motivierten Selbsterniedrigung des Menschen und Aufbruch zu seiner Selbsterhöhung in der Kunst." Der Untertitel des Buches legitimiert sich aus dieser Aufbruchsbewegung, die "das Barock zum eigentlichen Zeitalter der Entdeckungen macht" (21).
Zum anderen verzichtet Freund entsprechend der selbst erteilten Lizenz zum Eklektizismus weitgehend auf eine kontextuelle Einbettung der ausgewählten Werke. Von Naturwissenschaft oder Philosophie ist ebenso wenig die Rede wie von technischen Neuerungen oder vom Buchmarkt, von Distributionswegen und Buchpreisen; politische und konfessionelle Bezüge werden kaum angesprochen, der europäische Zusammenhang fehlt fast völlig. Ausblicke ergeben sich stets nur en passant von den behandelten Autoren her. Gelegentliche, durchaus treffende Einlassungen zu Neostoizismus, dem Signaturensystem der Frühen Neuzeit oder dem barocken Originalitätskonzept bleiben für das Gesamte der Darstellung folgenlos; der Verfasser leistet keine Synthese.
Freund baut sein Buch modulartig aus themenbezogenen Kapiteln um herausragende Vertreter der deutschen barocken Lyrik auf - neulateinische Dichtung klammert er ganz aus - und ergänzt sie um Abschnitte zu Prosawerken, Drama, Oper und Parkanlagen. Geschickt behält er grosso modo eine chronologische Abfolge von Martin Opitz als dem Begründer volkssprachlicher Barockdichtung über Paul Fleming und Andreas Gryphius als frühe Höhepunkte bis zu Johann Christian Günther (1695-1723) bei.
Obwohl Freund sich an ein breites Publikum wendet, keine neuen Forschungsergebnisse präsentieren will und sich also im sicheren Fahrwasser konsensfähiger kulturwissenschaftlicher Positionen halten kann, wäre da doch Einiges zurechtzurücken. Freund argumentiert ästhetizistisch und legt dem Barock Ideale der Weimarer Klassik zu Grunde: Das Ich wolle "sein wahres Selbst [...] entdecken" (217), strebe nach Einheit von "Sinn und Form" (213) und "gewinnt humanes Profil" (205). Entsprechend die Lyrik des 17. Jahrhunderts schlankweg "zum Bewusstseinsspiegel des modernen Menschen" (35) und das lyrische Ich zum "Träger großer Gefühle" (182) zu erklären, verfehlt ihre rhetorischen und gattungstraditionellen Entstehungsbedingungen völlig. Zudem unterstellt Freund der Barockzeit ein anthropozentrisches Weltbild: "Nie stehen die einzelnen Dinge für sich selbst, stets weisen sie zurück auf den ihre geistige Bedeutung stiftenden Menschen." (195)
Grundsätzlich wäre in einem Band, der mit einem Überblick über barocke Literatur Aspekte einer Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts bieten will, doch zunächst einmal der Ort von Literatur im kulturellen System des Barock zu umreißen gewesen. Und Literatur stellt nun einmal im 17. Jahrhundert kein abgeschottetes Subsystem dar, sondern ist den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens funktional zugeordnet: ob im Hofzeremoniell, bei Familienfeiern oder als politisches Agitationsmittel. Die Vielfalt literarischer Gattungen in der Frühen Neuzeit vernachlässigt Freund zu Gunsten der Goethe'schen Vorstellung von den drei Naturformen der Dichtung Epik, Lyrik und Dramatik.
Aus dem in der Horaz'schen Formel vom "aut prodesse aut delectare" festgelegten Auftrag zur belehrenden Unterweisung ist die Literatur der Barockzeit nicht entlassen. Und ihre Fundierung im System der Rhetorik machte die Grenze vom Lesenden zum Schreibenden grundsätzlich durchlässig. Das Ideal der Zeit ist der Universalgelehrte, der die von ihm beherrschten Stoffe zu ordnen und poetisch darzulegen weiß. Entsprechend hätte es aufschlussreich sein können, das Verhältnis wissenschaftlichen und poetischen Schreibens, das sich vom heutigen radikal unterscheidet, zu beleuchten. Opitz' Lehrgedicht "Vesuvius" (1633) als Reaktion auf den Ausbruch des Vulkans 1631 ist nur ein Beispiel dafür, dass literarische Gattungen dem lehrhaften Traktat als gleichberechtigte Darstellungsformen an die Seite gestellt werden konnten.
Um seine These zu stützen, zieht Freund großzügig Zeugnisse der bildenden Kunst auch aus Renaissance und Rokoko heran, Michelangelos David (1501-1504) ebenso wie das Münchner Cuvilliés-Theater (1753). Die Verweise auf Abbildungen im Text fallen oftmals unvermittelt bis schlichtweg unsinnig aus: in einem Satz über die "Erneuerung der deutschen Verssprache" (65) wird auf eine Abbildung des Klosters Melk verwiesen.
Der Versuch, die in der Breite vorherrschende Wahrnehmung der Barockzeit als 'Jammertal' zu relativieren, ist sicherlich zu begrüßen. Bei Freund schlägt die Darstellung aber ins Gegenteil um. Um seine These vom ungebrochen sinnenfrohen 17. Jahrhundert halten zu können, unternimmt er gewagte Verrenkungen. Schon sein Satz "Heraushebungen religiös-sakraler Themen gehören ebenso der Vergangenheit an [...]" (21) straft das halbe Buch Lügen. Freunds stereotype Formeln vom neuen Menschenbild und selbstbewussten Individuum ermüden; noch Opernarien müssen da für "das neue Selbstbewusstsein einer ganzen Epoche" einstehen, in denen "der Einzelne sein individuelles Ausdrucksvermögen" offenbare (180). Wer so anstrengend-angestrengt auf seiner These insistiert, scheint selbst nicht von ihr überzeugt zu sein.
Der Historiker Valentin Groebner hat kürzlich zwei Modi der Aktualisierung von Geschichte für die jeweilige Gegenwart beschrieben: die Suche nach Ursprüngen des Eigenen in der Vergangenheit nennt er den vertikalen Modus, eklektizistisches Herausgreifen von Daten aus dem Arsenal der Geschichte den horizontalen Modus. Letzterer sei aktuell verstärkt zu beobachten; in Zeiten leerer Kassen im Kultur- wie im Wissenschaftsbetrieb werde das knappe Gut Geschichte zunehmend als Fundus betrachtet, aus dem man beliebig Neukombinationen erstellen könne.[1] In Freunds Buch sind Herkunftssuche und Ursprungsmetaphorik offenbar zum Verkaufsargument abgesunken; sie überblenden die Alterität barocker Kultur und erlauben eine auf Breitenwirkung angelegte, leicht verdauliche "andere" Darstellung des 17. Jahrhunderts.
Ungeachtet seiner attraktiven Aufmachung wirkt das Buch inhaltlich unseriös: dazu tragen die Auswahl der Beispiele, die simple Argumentation und allzu knapp eingeschobene Ausblicke ebenso bei wie der Einbau der Abbildungen in den Gang des Textes. Dass eine derart oberflächliche - und unglaubwürdige - Darstellung der breiteren Wahrnehmung des 17. Jahrhunderts und der gesamten Frühen Neuzeit auf Dauer gut tun wird, ist zu bezweifeln.
Anmerkung:
[1] Valentin Groebner: Welche Themen, wessen Frühe Neuzeit? Kulturbegriff und Gegenwartsbezug, in: Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, herausgegeben von Helmut Puff und Christopher Wild. Göttingen 2003, 21-36.
Jan Mohr