Rezension über:

Reinhard Liess: Im Spiegel der "Meninas". Velázquez über sich und Rubens, Göttingen: V&R unipress 2003, 118 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-89971-101-1, EUR 22,90
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Rezension von:
Hermann Leber
Institut für Kunsterziehung, Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Leber: Rezension von: Reinhard Liess: Im Spiegel der "Meninas". Velázquez über sich und Rubens, Göttingen: V&R unipress 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/7932.html


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Reinhard Liess: Im Spiegel der "Meninas"

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1903 ist Carl Justis bis heute aktuell gebliebenes Standardwerk "Velázquez und sein Jahrhundert" in zweiter Auflage veröffentlicht worden. Hundert Jahre später ist mit dem neuen Buch von Reinhard Liess ein zweiter Eckpfeiler kunstgeschichtlicher Forschung erschienen.

Es ist kaum zufällig, dass nach all den in der Zwischenzeit erfolgten Versuchen und Fortschritten der Velázquezforschung gerade dieser nicht nur auf Rubens spezialisierte Forscher zu einer Erklärung der >Meninas< gelangt ist, die den Zentralnerv des künstlerischen Hervorbringens bei Velázquez trifft und durch ihre vermeintliche Einfachheit zugleich ernüchternd wirkt. Der Hauptachse der Erkenntnisse des Autors soll daher im Folgenden nachgegangen werden, denn die Ergebnisse seines Buches lassen die allzu oft beschworene Streitsucht des Polemikers, angesichts der allein wichtigen konstruktiven Leistung des Forschers verblassen.

Im Bild zeigt sich der Maler selbst neben und hinter der absichtsvoll von uns abgewendeten riesigen Leinwand im Augenblick des Nachdenkens, des Innehaltens, mitten im Konzipieren seiner Bildidee; also nicht malend, nicht "está pintando", wie Antonio Palomino (1724) dies irreführend und mit nicht enden wollenden Folgen für die nach Erklärungsquellen suchenden späteren Interpreten formuliert hatte, sondern "está contemplando y reflexionando", wie es nach Liess richtiger heißen müsste (49). Denn der Maler konzentriert sich ja gar nicht auf seine Leinwand, sondern er schaut - ebenso wie die Infantin, wie die rechte Menina, wie die Zwergin und der Aposentador der Königin (in der hell erleuchteten Türöffnung des Hintergrundes), aber in der Art seines Blickens von ihnen allen unterschieden - auf das eintretende Königspaar Philipp IV. und Mariana. Das Königspaar selbst ist im Raum des Bildes zwar "nicht körperlich anwesend, aber [es ist] wirkungshaft gegenwärtig". Dies zeigt Liess nicht nur an den Blicken, sondern auch an den Reaktionen aller Figuren des Bildes.

Zum Blick des Malers gehören seine selbstbewusste Haltung, seine Malhand und die Palette - mit ihren das farbige Konzept andeutenden, in nebliges Weiß gemischten roten Farbpasten (vergleiche 73) - ebenso wie das daran unmittelbar aufblitzende >capricho< der Pinselfaktur: "Die Finger [der Malhand] wirken skizziert, aber über Details ihrer Gliederung wird nur hinweggegangen, um das Gesamtbild ihrer Tätigkeit zu vervollkommnen. Die Hand schwingt sich auf, durch das über dem Handgelenk aufscheinende Weiß des Ärmelinnern im doppelten Sinne des Wortes >beflügelt<. Bei verborgenem Daumen gleiten mit den lang und trocken ausgestrichenen braunen und weißen Pasten auch Form und Licht der Finger konvergierend direkt in den Pinselstil über. Hand und Pinsel verschmelzen zu einem einzigen Instrument. Die Pinselspitze mit ihrer lichtweißen Paste wird zu einer blinkenden Pointe der sowohl manuellen als auch geistigen Tätigkeit des Malers, der hier präzise zielend und treffend zu Werke gehen wird [...] Palette und Pinselbündel tangieren den Kopf der linken Menina, so als würden sich die Malinstrumente unvermittelt ins Malwerk verwandeln" (67).

Liess zieht Schlüsse aus dem, was an dieser besonderen Bildstelle nun offen vor Augen gelegt ist, aber ebenso für das Ganze des Bildes gilt: Die Bildbedeutung ist nicht trennbar von Malweise und Pinselfaktur (97). Es herrscht absolute Einheit von Idee und Ausführung. "Irreversibel sind die Formkörper als Farbkörper gedacht, gesehen und entworfen" (105). Es gibt keine Formsetzung, die ohne Berücksichtigung der Pinselfaktur definierbar wäre. Velázquez' Malerei ist "ein Gegensatz zur kolorierten Zeichnung" (103); sie hat bei ihm "konzeptionellen Stellenwert".

Oberhalb dieses malerischen Wunderwerks, aus Malhand, Pinsel und Palette (dessen Spuren, wie Liess zeigt, zu Manet und auch zu Cézanne führen [vergleiche insbesondere 93 - 118]), ist es vor allem der gedanken- und empfindungsvolle Blick, der "Königsblick des Malers" im Augenblick der Imagination, der nach Liess den Schlüssel für die bisher vergeblich gesuchte Herkunft und Wesenheit des >Spiegelbildes< des Königspaares im Hintergrund des Raumes bildet.

Als ein drittes Helligkeitszentrum leuchtet dieses >Spiegel-Bild< über und neben dem kostbaren "Lichtwesen der kleinen Infantin", im Zentrum der >Meninas< und neben der durch eine geöffnete Tür Einblick in ein Treppenhaus gewährenden hellsten Stelle des Bildes. Exakt in der symmetrischen Mittelachse und unterhalb von zwei zunächst nur durch ihre Größe auffallenden, fast gänzlich verschatteten Bildern angebracht, scheint es einer anderen Realitätsebene anzugehören als alle anderen Dinge des gesamten Bildes.

Die beiden zu diesem >Spiegel-Bild< bisher vorgebrachten prominenten Deutungsmöglichkeiten versucht Liess zu widerlegen: 1. Es kann keine Reflexion eines auf der im Bild dargestellten riesigen Leinwand entstandenen oder entstehenden Gemäldes (>Spiegel-Bild< und Leinwand stehen nicht parallel zueinander, die Leinwand ist nach rückwärts geneigt und so weiter; vergleiche 43) sein. 2. Es kann sich auch nicht um das Spiegelbild des vor dem Bild anzunehmenden Herrscherpaares handeln:

"Alle Versuche, die linearperspektivischen Sehstrahlen des vor dem Bild angenommenen Paares in den Spiegel der Rückwand zu lenken, blieben insofern illusionär, als deren Entfernung von der Schnittebene des Bildes nicht bekannt sind. Im Zirkelschluß legte man zum >Beweis< dafür, daß der Spiegel das (vor dem Gemälde angenommene) Paar reflektiere, eine Position desselben fest, die man zuvor aus dem Spiegelbild der Majestäten gefolgert hatte. [...] Man stellte sich Philipp und Mariana an eben den Platz, von dem aus die Erzeugung des Spiegelbildes plausibel erscheinen würde" (42). Entgegen allen bisherigen Behauptungen bewegt sich Velázquez also oberhalb der aus der italienischen Frührenaissance geläufigen Vorzeigestücke perspektivischer Konstruktion.

Die naturalistisch-illusionistischen Erklärungsversuche des Bildes haben gegen sich, dass sie das Erfinderische der Kunst des Velázquez zu gering achten. Das Neue und Einleuchtende bei Liess besteht im Nachweis, dass "das naturalistische Konzept und seine Anwendung im Illusionismus der mathematisch konstruierten Perspektive [durch Velázquez] hinfällig gemacht [wurde]". (Näheres zur Überbetonung der Perspektivkonstruktion und zur notwendigen Blickerweiterung auf die Beziehungen der Bilddinge auch innerhalb der Bildebene in den Kapiteln >Velázquez und die Perspektive< [27 - 40] und >Die Entstehung des königlichen Doppelbildnisses im Spiegel und seine Deutung< [40 - 47]).

"Nicht bildet der Spiegel eine vorgegebene Wirklichkeit ab. Im Gegenteil, er selbst präfiguriert ein Gemälde, das es noch gar nicht gibt und nun erst seiner Verwirklichung harrt. Mit und nach der Ausführung des Gemäldes wird es die [von uns abgewendete] Leinwand sein, die das im Spiegel, das heißt im Geiste des Malers leuchtende Bildnis reflektiert - und nicht umgekehrt, wie man bisher angenommen hat" (47).

Das >Spiegelbild< ist also das Abbild einer bestimmbaren Wirklichkeit - zu Recht wurde auch von anderen Autoren bereits darauf hingewiesen, dass es wie ein Gemälde komponiert sei - aber dies "Abbild ist kein naturalistisch erklärbares, sondern es reflektiert ein noch unausgeführtes, nur im Geist des Malers soeben entstehendes Doppelbildnis des Königspaares (vergleiche 46 und 75).

Diese Deutung des >Spiegel-Bildes< als Reflexion einer Bildnisvision im Geiste des Malers kann Liess im Folgekapitel >Analogien des Spiegels im Œuvre des Velázquez< auf sieben (!) weitere Hauptwerke des Malers stützen. Es handelt sich also nicht um ein Einzelphänomen. Die Differenzierung zwischen zwei Realitätssphären in Raum und Zeit, innerhalb ein und desselben Bildes gehört zu den stilbildenden Prinzipien bei Velázquez.

Der zunächst irritierende Untertitel des Buches "Velázquez über sich und Rubens" kann vor diesem Hintergrund seinen Sinn enthüllen. Oben war, Liess folgend, schon darauf hingewiesen worden, dass das >Spiegelbild< des Königspaares in besonders proportionierter Weise auf seine Umgebung bezogen ist. Es hängt genau in der Mittelachse unter zwei auffällig symmetrisch zueinander geordneten, gleich großen, verdunkelten Bildern. Nach der Seite des Formalen allein und als vereinzelte Beobachtung wäre dies eine kaum besonders wichtige Beobachtung des Autors. Aufregend wird dieser Zusammenhang jedoch in dem Augenblick, wo erkannt wird, dass das >Spiegel-Bild< auf zwei, dazu in übergeordneter Position befindliche mythologische Bilder von Rubens bezogen ist.

Der Velázquezforschung war - ohne, dass allerdings bisher wesentliche Schlüsse daraus gezogen wurden - seit langem bekannt, dass diese beiden, bereits 1943 von Sanchez Cantón identifizierten, und bereits 1724 von Antonio Palomino entscheidend mit Rubens als Autor in Verbindung gebrachten Bilder, die Darstellungen des Wettstreits "zwischen göttlicher und menschlicher Kunstfertigkeit und Urteilskraft" zum Thema haben. Links ist der Wettstreit zwischen Athena und Arachne um die größte Vollkommenheit in der Webkunst (Ovid, Met. VI, 1 ff.), rechts derjenige zwischen Apoll und Pan um die größte Vollkommenheit in der Musik (Ovid, Met. XI, 147 ff), dargestellt.

Ebenso wie alle übrigen Bilder, die in dem von Velázquez dargestellten Raum (dem unter Aufsicht des Velázquez umgebauten ehemaligen >Cuarto del Principe<) die Wände gliedern, gehen auch die beiden Wettstreitdarstellungen auf Bilderfindungen von Rubens zurück, die ab 1636 - also 23 Jahre vor dem Entstehungsdatum der >Meninas< (1659) im Auftrag Philipps IV. von der Werkstatt des Rubens für die Galerie in der >Torre de la Parada< ausgeführt und von Velázquez' Schüler Mazo für den Cuarto del Principe kopiert wurden.

Liess hat im Einklang mit den historischen Fakten innerhalb dieses Fragekomplexes eine Spannungssteigerung vorbereitet, die an dieser Stelle hinzugewusst werden muss. Der Auftrag Philipps IV. von 1636 an Rubens und seine Werkstatt war die Folge eines neun Monate dauernden diplomatisch-künstlerisch begründeten Aufenthalts des Rubens am spanischen Hof im Jahre 1628. Das Aufeinandertreffen der beiden Künstler muss so etwas wie ein dramatisches Ereignis gewesen sein. Im Kapitel >Rubens versus Velázquez, Die Bildnisse Philipps IV.< (63 - 71) geht Liess dem Wettstreit der beiden Künstler nach und vergleicht insbesondere die Reiterbildnisse und die Portraits, die beide Künstler nach dem selben lebenden Modell gemalt haben:

Auf dem vornehmsten Feld der Reiterbildnisse erlitt Velázquez eine Niederlage. "Schon nach wenigen Jahren [wurde sein Werk] [...] entfernt und durch das neue des Rubens ersetzt" (67). Den Einbruch des Porträtstils des Rubens in die sichere Domäne des Velázquez "muß dieser als eine Konkurrenz, ja vielleicht sogar als Bedrohung empfunden haben" (71). Die Quellen berichten jedoch nichts von einem Eklat zwischen den beiden Künstlern, sondern sogar von freundschaftlicher Verbundenheit und gegenseitiger Achtung.

Die von Liess behandelte Frage nach dem Spannungs- und Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Künstlern auf der Stufe der >Meninas< hat damit eine Zuschärfung erhalten. Bei den Rubensbildern, die in den >Meninas< dargestellt werden, handelt es sich, wie oben bereits erwähnt, um Kopien, die der Schüler und Mitarbeiter des Velázquez, J. B. Martínez del Mazo, nach jenen Rubenserfindungen von 1636 angefertigt hat. Dieses Faktum schwächt die von Liess gezogenen Schlüsse aus den von Velázquez durch Verschattung, aber auch durch Über- und Unterordnung im Verhältnis zur eigenen Kunst absichtsvoll herbeigeführten Bewertungen der Kunst seines großen Rivalen und Antipoden, nicht.

Denn die Art, wie in den >Meninas< 1659 ein real existierender, schlauchartig überlängter Palastraum porträtiert und dabei extrem verkürzt in der Bildebene entfaltet wird, wie also, Manet und Cézanne vorbereitend, Raumwirkung und Spannung in der Bildfläche miteinander gekoppelt werden, gewinnt seine künstlerische und kunstgeschichtliche Relevanz ja erst unter dem Gesichtspunkt, dass Planung und architektonische Herrichtung des Galerieraums durch Velázquez selbst verantwortet und geleistet wurden (vergleiche 17).

Der Frage nach den Aufgaben des Velázquez bei der Gestaltung bestimmter Räume musste der Autor deshalb mit einem besonders akribischen Gang zu den Quellen - zu Anfang der darauf aufbauenden künstlerischen Analysen - nachforschen. Die im Kapitel >Velázquez als Urheber der Gemäldegalerie im >Cuarto del Principe<< (10 - 17, Anmerkungen 4 - 25) in Zusammenhang gebrachten, zahlreichen Beweise erlaubten Liess schließlich die Annahme, dass zu Velázquez' Ämtern am spanischen Hof "nicht nur die Auswahl und Verteilung der Gemälde auf verschiedene Räumlichkeiten, sondern auch ihre Rahmung und Anordnung nach Malern, Inhalt und Format" (15) gehörte.

Die Erkenntnisse des Autors lassen sich andeutend folgendermaßen zusammenfassen:

- Velázquez war der Organisator der Gemäldeausstattung des von ihm in den >Meninas< dargestellten Bildraums.

- Die Entscheidung für diesen Ort als "Schauplatz seines Gruppenbildnisses und seines Selbstbildnisses" ist seine eigene.

- Die Rubensbilder tauchen nicht zufällig auf, sondern sie spielen im Sinnganzen des Werks und als Hintergrund des Selbstbildnisses, die herkömmlichen ikonografischen Bedeutungszusammenhänge übersteigend, eine wesentliche Rolle.

- Velázquez hat als Erfinder und Planer seines Gemäldes die Ausrichtung und Orientierung des Raumes (einschließlich der Licht- und Schattenplanung) festgelegt und zugleich die beiden Rubensgemälde zum >Spiegel-Bild< des Königspaars und zu seinem eigenen Selbstbildnis in ein abgewogenes und genau proportioniertes Verhältnis gesetzt.

- Mit seinem Selbstbildnis präsentiert er sich seinem König und der Königin damit nicht nur in doppelter Urheberschaft, sondern er erzeugt in der Konfrontation der Kunst des Rubens mit seiner eigenen ein Beziehungsgefüge, das präzise definierten kompositorischen und gedanklichen Proportionen folgt. Dieses Beziehungsgefüge bezeichnet Liess als >Logos des Bildes<.

Diesen Logos des Kunstwerks verstehbar werden zu lassen, ist zugleich die alles Polemische überstrahlende Leistung des Autors und die Freude des Lesers.

Hermann Leber