Rezension über:

Sonja Schultheiß-Heinz: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte; Bd. 16), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 357 S., ISBN 978-3-515-08028-6, EUR 62,00
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Rezension von:
Johannes Arndt
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Arndt: Rezension von: Sonja Schultheiß-Heinz: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/6381.html


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Sonja Schultheiß-Heinz: Politik in der europäischen Publizistik

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In ihrer Bayreuther Dissertation untersucht und vergleicht Sonja Schultheiß-Heinz drei Zeitungen aus Nürnberg, Paris und London. Der "Teutsche Kriegs-Kurier" erschien ab 1673 in der Felseckerschen Offizin in Nürnberg. Zweimal pro Woche konnten die Leser normalerweise acht Seiten erwarten, jährlich damit circa 800 Seiten. Hinzu kamen Sonderausgaben als Beilagen, deren Zahl schwankte. Bis zu 119 derartige Drucke von Memorialen, Bündnisartikeln, Kriegsbeschreibungen oder Leichenbegängnissen konnten in einem Jahr herausgebracht werden. Die Mediengattung der Flugschrift lebte hier integriert in den Zeitungsverband fort. Die französische "Gazette" war 1631 von Théophraste Renaudot gegründet worden und gewann schon durch Richelieus Privilegierung den Charakter der offiziellen Staatszeitung in Frankreich, ein Status, der bis 1789 fast ungebrochen andauern sollte. Die Zensurkommision "Maître de la Librairie" gewährleistete insbesondere für Berichte zu internationalen Ereignissen, dass nichts eingerückt wurde, was den Ansichten und Interessen der Pariser Regierung widersprach. Die "Gazette" erschien einmal pro Woche samstags im Umfang von acht bis zwölf Seiten, gegliedert in das Hauptheft sowie die "Nouvelles Ordinaires" als Beilage. Auch hier konnten, wie beim "Kriegs-Kurier", Relationen und Extraordinaria angehängt werden. Die "London Gazette" wurde 1665 gegründet und war während des "Holländisch-Schwedischen Krieges" die einzige offiziell in England zugelassene Zeitung. Die "London Gazette" erschien zweimal wöchentlich montags und donnerstags im einblättrigen Folioformat. Jedes Blatt war auf Vorder- und Rückseite zweispaltig bedruckt. Die "London Gazette" hatte bis zu 105 Nummern mit circa 210 Seiten Umfang. Herausgeber in den 1670er-Jahren war Thomas Newcomb.

Die Zeitungsauswahl erfolgt methodisch plausibel: Die "Gazette" und die "London Gazette" waren Monopolzeitungen in ihren Ländern, der "Kriegs-Kurier" hingegen eines von zahlreichen unabhängigen Presseerzeugnissen im Heiligen Römischen Reich, das sich vor allem durch die leidliche Vollständigkeit in der Überlieferung auszeichnet. Dies ist angesichts der Tatsache wichtig, dass kaum mehr als 15% der Zeitungsausgaben des 17. Jahrhundert heute noch in wenigstens einem Exemplar greifbar sind. Drei unterschiedliche Nationalkulturen der Zeitungsproduktion werden untersucht, und die Unterschiede hinsichtlich des Nachrichtenwerts sind nicht sehr groß: Schultheiß-Heinz kann feststellen, dass die Berichterstattung in den untersuchten Ländern ein selbstgesteuerter Prozess war, für dessen Rahmen zwar die Zensur sorgte, innerhalb dessen aber vergleichbare Kriterien für die Gewichtung der Informationen galten.

Für die Analyse der drei Zeitungen reichte, so die Verfasserin, die historisch-hermeneutische Methode nicht aus, sondern die in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gebräuchliche Inhaltsanalyse trat an deren Stelle. Empirisch verwertbare Daten ließen sich nicht durch Stichproben allein erreichen, sondern nur durch sorgfältiges Auszählen nach vorher festgesetzten Parametern. Ein ausführlicher Codeplan erläutert die Methodologie der Datenerhebung für diese Studie (277-291); auf dieser Grundlage sind die zahlreichen Tabellen (49 im Text, 37 im Anhang) und Grafiken (15 im Text) entstanden, die die Arbeit prägen.

Als Untersuchungszeitraum wurde der Abschnitt 1672 bis 1679 ausgewählt, als Europa vom "Holländisch-Schwedischen Krieg" erschüttert war. Es verwundert daher nicht, dass Berichte von den Kampfhandlungen sowie den Friedensverhandlungen mit Bezug auf diesen Krieg die große Mehrheit der Nachrichten ausmachten, nämlich circa 70 bis 80%. Kriegsberichte stellten ohnehin den Schwerpunkt der politischen Presseberichterstattung dar, und es ist bei Kriegen im 17. und 18. Jahrhundert generell zu beobachten, dass Nachrichtenmengen zunahmen und neue Medien gegründet wurden. Das Zeitungswesen war zwar kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg entstanden, hatte sich aber während dieses Krieges in Europa stark ausgedehnt und in Deutschland zu einer erstaunlichen Vielfalt der Pressestandorte geführt. Später nahm auch das Zeitschriftenwesen in den 1670er-Jahren und nochmals während des Spanischen Erbfolgekrieges eine rasante Entwicklung und sicherte sich anschließend eine bleibende Bedeutung. Die zweitgrößte Nachrichtengruppe umfasste den politischen Bereich, wobei im Stil der Zeit klare Schwerpunkte auf die Hofbegebenheiten und die diplomatischen Verhandlungen gelegt wurden. Dieser Block umfasste 10 bis 23% der Berichterstattung.

Für andere Informationsbereiche, etwa Innen-, Wirtschafts-, Kirchen- oder Kulturpolitik, blieben daher nur Prozentwerte von unter 10% übrig. Für die innenpolitischen Berichte weist Schultheiß-Heinz Werte von 4 bis 5% nach, nur in England reichte dieser Bereich bis zu 8%, was teilweise mit längeren, wörtlich abgedruckten königlichen Proklamationen zu begründen ist. Wirtschaftspolitische Themen machten nur 2 bis 3% der Nachrichten aus. Sowohl bei Fragen zur Inneren Politik wie zur Wirtschaftspolitik wurden Themen präferiert, die sich in eine Beziehung zur Außenpolitik setzen ließen, zum Beispiel die polnische Königswahl. Kulturmeldungen konnten noch keine Eigenständigkeit gewinnen: Alle relevante Kultur ging in irgendeiner Weise vom Hof oder von der Kirche aus, eine Autonomie dieses Bereiches in medialer Hinsicht konnte sich erst seit dem Aufklärungszeitalter entwickeln (164 f.).

Eine wichtige Frage ist die nach den Wertungen in der Presseberichterstattung. Der klassische Erklärungstopos, dass die strenge Zensur jede Form von Wertungen aus den Zeitungen verbannt habe, muss korrigiert werden. Zum einen hat es wichtige zeitgenössische Stimmen gegeben, zum Beispiel Kaspar Stieler in seinem 1695 erschienenen Werk "Zeitungs Lust und Nutz", die darauf abhoben, Gedanken zum Text könne sich der Leser auf der Grundlage seines Vorverständnisses selbst machen. Zum anderen stellt die Verfasserin fest, dass in ihren untersuchten Zeitungsausgaben sehr wohl Wertungen enthalten sind (179-186). Die Prozentzahlen der wertenden Äußerungen sind zwar klein, durchziehen die Berichterstattung aber sehr gleichmäßig und geben dem jeweiligen Periodikum ein eigenes Profil. So liegt es nahe, dass Kaiser Leopold im "Teutschen Kriegs-Kurier" im Sinne des Reichspatriotismus positiv konnotiert wird, während die beiden anderen Periodika den Kaiser leicht negativ und ihren jeweiligen Herrscher positiv darstellen. Ludwig XIV. wurde, wie nicht anders zu erwarten, im Reich kritisch betrachtet - erstaunlicherweise hingegen in England nicht beziehungsweise erst in der Schlussphase im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen von Nimwegen (299, Tabelle XXVIII). Quantitativ übertreffen die negativen die positiven Wertungen etwa im Verhältnis 3:1 - der Topos "nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht", den Zeitungsvolontäre noch heute lernen, hat damit eine weit zurückreichende Tradition (vergleiche 179, Tabelle 39).

In der Typologie der Berichterstattung konnte der "Kriegs-Kurier" auf den antitürkischen und antifranzösischen Argumentationsmustern der Zeit aufbauen. Der Reichspatriotismus wurde als Integrationsideologie durchgängig verwendet, wodurch sich das Periodikum in die überwiegende Mehrheitsmeinung im Reich des späteren 17. Jahrhunderts einreiht. Die Pariser "Gazette" verherrlichte den Sonnenkönig als Schlachtensieger und höfischen Spitzenrepräsentanten, wobei Erfolg und moralische Qualität als gottgewollte Einheit dargestellt werden, bekräftigt durch das nach jedem Erfolg angestimmte und in der Zeitung jeweils erwähnte Te Deum (240 f.). Der Kaiser wird hingegen als Unterdrücker der ständischen Freiheiten, etwa die der ungarischen Adligen, wahrgenommen. Den militärischen Gegnern Frankreichs wirft die "Gazette" militärische Grausamkeiten wie Brennen, Plündern und Verwüsten vor. Auch wird den gegnerischen Presseorganen falsche Berichterstattung nachgesagt. Zurückhaltender wertet die "London Gazette". Hier wird der König nicht als Held verehrt, sondern als treu sorgender Landesvater, der das Wohl seiner Untertanen auch im Krieg wahrt und gleichzeitig die Streitkräfte durch vorausschauendes Handeln in gutem Zustand ("very good condition") erhält (257). Auch in diesem Periodikum wird den Gegnern unzivilisierte Kriegsführung vorgeworfen, etwa die Tötung französischer Offiziere durch die Spanier in den südlichen Niederlanden. Die gegnerischen Zeitungen, etwa die niederländischen, werden der "gewohnheitsmäßigen Lüge" bezichtigt (262 f.). Den Abschluss des englisch-französischen Bündnisses 1670 und dessen Zerfallen vier Jahre später vollzieht die "London Gazette" bruchlos mit, ohne dass dies irgendwo thematisiert worden wäre.

Die Studie von Sonja Schultheiß-Heinz zeichnet sich durch eine klare Systematik, überzeugende Methodik und eine auf sinnvolle Weise präsentierte Datenvermittlung aus. Dabei verliert der Text an keiner Stelle an Lesbarkeit. Jedem politischen Redakteur, gleich ob für Print- oder AV-Medien zuständig, sei der Text als Pflichtlektüre zur Reflexion über sein heutiges Tun ans Herz gelegt.

Johannes Arndt