Rezension über:

Edward W. Bodnar / Clive Foss (eds.): Cyriac of Ancona. Later Travels (= The I Tatti Renaissance Library; Bd. 10), Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2004, 496 S., ISBN 978-0-674-00758-1, EUR 29,95
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Rezension von:
Andreas Grüner
Institut für Klassische Archäologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Grüner: Rezension von: Edward W. Bodnar / Clive Foss (eds.): Cyriac of Ancona. Later Travels, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/6393.html


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Edward W. Bodnar / Clive Foss (eds.): Cyriac of Ancona. Later Travels

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Im Jahr 1420 erhält der Kaufmann Ciriaco de' Pizzicolli (1391-1452) vom späteren Papst Eugen IV. den Auftrag, den Hafen seiner Heimatstadt Ancona zu restaurieren. Die Beschäftigung mit dem Trajansbogen auf der Hafenmole gerät für Ciriaco, der sich fortan Cyriacus Anconitanus nennt, zum Schlüsselerlebnis: den Rest seines Lebens wird er Italien und den gesamten östlichen Mittelmeerraum nach Spuren der Antike durchforsten. Seine an Fanatismus grenzende Begeisterung (logistisch unterstützt vom weitgespannten Netzwerk seiner Handelskollegen aus Venedig und Genua) führt ihn bis nach Kairo und Damaskus, vor allem aber nach Griechenland und Kleinasien, wo er nahezu alles dokumentiert, was an antiken Resten zu dieser Zeit noch sichtbar ist.

Cyriacus hinterlässt kein geschlossenes literarisches Werk, sondern ein gigantisches Notizbuch, aus dem er je nach Bedarf Informationen schöpft. In jahrzehntelanger Arbeit füllt er Band über Band mit Reisenotizen. Die Reste dieses Zettelkastens, von dem nun zum ersten Mal umfangreichere Partien zusammengestellt sind, lassen die Bedeutung des Gesamtwerks nur erahnen: Erläuterungen antiker Städte in Griechenland und der Ägäis, illustriert durch Zeichnungen und präzise Bauaufnahmen, dazu ethnografische Exkurse, Beschreibungen von griechischen Reliefs und zeitgenössischen Gemälden - ein Lobpreis Rogier van der Weydens beschließt die Ausgabe -, antike Inschriften und selbstgedichtete Sonette, garniert mit lebendigen Reisedetails, wie etwa der Empfang im Palast des türkischen Sultans oder die Jagd mit dem byzantinischen Kaiser.

Der Leser wird in den Texten des Cyriacus daher alles Mögliche finden, nur eines nicht: ein System. Das liegt nicht nur an der fragmentarischen Erhaltung seines Werks. Anders als Alberti und später Leonardo hatte Cyriacus offenbar nie die Absicht, sein Material sinnvoll zu ordnen. Die Antike hatte - bei aller fanatischen Begeisterung - für ihn einen ganz pragmatischen Zweck. Sein Wissen, das er durch Briefe und Besuche gezielt an mächtige Gönner herantrug, verschaffte ihm Zugang zu den Eliten Europas. Cyriacus führt den deutschen Kaiser Sigismund durch die Ruinen Roms, Papst Eugen IV. ist sein wichtigster Patron, er begutachtet die Antikensammlung Cosimo Medicis und wird von diesem großzügig unterstützt, er kennt den türkischen Sultan und den byzantinischen Kaiser Johannes VIII. Palaiologos persönlich (der erste Brief der vorliegenden Sammlung adressiert den byzantinischen Kaiser). Gerade hier liegt auch der Reiz der vorliegenden Ausgabe. Je weiter man in der Lektüre der Briefe fortschreitet, desto deutlicher wird, wie geschickt Cyriacus sich in diesem Netzwerk bewegt - sei es als Humanist, der den Parthenon beschreibt, als Antikenhändler, der in der Ägäis antike Skulpturen sammelt und vermittelt, oder als Informant in Diensten des päpstlichen Diplomaten Kardinal Cesarini.

Mit der Form des cyriaceischen Werks war zugleich dessen Schicksal besiegelt. Während die kompakten Traktate vieler humanistischer Kollegen zunächst durch Handschriften verbreitet wurden, im Laufe des späten fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts dann im Druck erschienen, wurden die "Commentarii" des Cyriacus nie vollständig kopiert, geschweige denn gedruckt. Nun sind derartige Bücher bekanntermaßen notorisch gefährdet, und tatsächlich geriet das Lebenswerk des Cyriacus in die Bibliothek der Sforza, die 1514 in Flammen aufging. Übrig blieb ein Dutzend Seiten, die ein Dieb zuvor herausgetrennt hatte; vor allem aber viele handschriftliche Exzerpte des fünfzehnten Jahrhunderts, teils von Cyriacus selbst, teils von Schreibern oder befreundeten Humanisten angefertigt. Dazu kommt eine große Anzahl von Briefen, in die er Teile seines Tagebuchs kopierte. Exzerpte und Briefe verteilten sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte über die Bibliotheken und Archive Europas, wurden abgeschrieben, gekürzt, verändert oder in barocken Gelegenheitsdrucken ediert. Angesichts dessen war auf eine Gesamtedition bislang nicht zu hoffen, da ein Herausgeber nicht nur hohen philologischen und kombinatorischen Scharfsinn, sondern vor allem unendlich viel Zeit mitbringen sollte: wie die Herausgeber im Vorwort bemerken, brauchte es 35 Jahre, bis diese erste größere Textsammlung erscheinen konnte.

Die vorliegende Ausgabe ist, obwohl sie lediglich die Schriften der letzten Lebensjahre (1443 bis 1449) umfasst, ein erster Schritt zur Erschließung des cyriaceischen Œuvres. Briefe und Fragmente sind vorbildlich ediert, Vollständigkeit, Lesbarkeit und Textverlässlichkeit wurden gleichermaßen erreicht. Eine Einleitung bietet Informationen zu Leben, Werk und Sprache des Cyriacus; im ersten Anhang finden sich eine Reihe von Kurzbiografien der wichtigsten Akteure; der textkritische Kommentar ist mit ausführlichen Quellenangaben, Varianten und epigrafischen Verweisen von altphilologischer Präzision; Anmerkungen mit wichtigen Hintergrundinformationen erleichtern dem Leser die Lektüre. Als Autodidakt schreibt Cyriacus ein bizarres, stellenweise gar abstruses Latein, gespickt mit eigenartigen Formeln, Neologismen und waghalsigen Konstruktionen; all diese Hürden bewältigt die gut lesbare englische Übersetzung auf souveräne Weise.

So bravurös diese Cyriacusausgabe in philologischer Hinsicht ist, so defizitär bleibt sie eben dort, wo Cyriacus die Kunst der Frührenaissance nachhaltig beeinflusste und wo er bis dato unerreichte Maßstäbe setzte: in der Bilddokumentation. Den Herausgebern genügten gerade einmal zehn leidlich qualitätvolle Schwarz-Weiß-Tafeln, um die zahlreichen Illustrationen, die in den redigierten Handschriften überlebten, zu dokumentieren. Es fehlen unter anderem nicht nur die wichtigen Zeichnungen des Hadrianstempels von Cyzicus und mehrere Skizzen von der Hand des Cyriacus selbst, sondern vor allem sämtliche Illustrationen des Münchner Codex (Staatsbibliothek clm 716), die Cyriacusabschrift des Hartmann Schedel, aus der Dürer nachweislich Anregungen bezog. Ein vollständiger Katalog der überlieferten oder kopierten Zeichnungen des Cyriacus für den behandelten Zeitraum hätte gezeigt, mit welcher Genauigkeit und scharfen Beobachtung der Kaufmann antike Architektur und Plastik dokumentierte und analysierte - Methoden, die zum Teil erst Jahrhunderte später, bei der Etablierung der Klassischen Archäologie im achtzehnten Jahrhundert, wieder zum Einsatz kamen.

Vor allem aber wäre deutlich geworden, dass bei Cyriacus, anders als bei vielen seiner stark philologisch orientierten Humanistenfreunde, das Bild keine bloße Illustration des Textes bleibt, sondern zur Grundlage eines eigenen Antikendiskurses avanciert. Ein schwacher Trost mag sein, dass dieses Manko der vorliegenden Ausgabe in einer langen Tradition steht. Schon die Renaissanceabschriften verzichteten in immer stärkeren Umfang auf eine mühsame Wiedergabe der zahllosen Skizzen und konzentrierten sich auf die bloße Abschrift der Inschriften. So bleibt die neueste Ausgabe trotz ihrer Vollständigkeit unvollständig: ohne einen Katalog der Zeichnungen werden wir auch künftig nur den halben Cyriacus kennen.

Andreas Grüner