Siarhei Ja. Novikaŭ: Belarus' u kantėksce hermanskaj histaryjahrafii historyi druhoj susvetnaj vajny. [Weißrußland im Kontext der deutschen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg], Minsk: Verlag Minski dzjaržaŭny lingvistyčny universitėt MDLU [Minsker Staatliche Linguistische Universität] 2004, 222 S., ISBN 978-985-460-032-1
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Richard Smith / Patrick Salmon / Stephen Twigge (eds.): The Invasion of Afghanistan and UK-Soviet Relations, 1979-1982, London / New York: Routledge 2012
An der Linguistischen Universität in Minsk, Belarus', wird seit Jahresbeginn eine neue Studie zum Zweiten Weltkrieg für die Ausbildung von Studenten genutzt. Der Autor Siarhei Novikaŭ ist Lehrstuhlinhaber für Geschichte und Weißrusslandkunde an der Staatlichen Linguistischen Universität. Die Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, förderte das Projekt und finanzierte mehrere Forschungsaufenthalte am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam.
Die in weißrussischer Sprache verfasste Studie vermittelt ein differenziertes Bild des Krieges, das sich stark von den heroischen Interpretationen der Sowjetzeit abhebt, die auch im seit 1991 unabhängigen Belarus' noch anzutreffen sind. Novikaŭ wertete als einer der ersten weißrussischen Historiker systematisch die deutschsprachige Forschung zum Zweiten Weltkrieg aus. Dass westliche Fachliteratur sogar die Basis des Buches bildet, ist in Weißrussland ebenso bemerkenswert wie manche Perspektiven seiner Darstellung. Novikaŭ beschreibt die militärische Besetzung Weißrusslands durch die Wehrmacht, die deutsche Besatzungspolitik, den Hungertod hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener sowie Terror und wirtschaftliche Ausbeutung in den besetzten Gebieten. Neben diese in Belarus häufig diskutierten Aspekte treten jedoch weitere, welche die eigentliche Leistung des Buches ausmachen. Novikaŭ schildert die sowjetische Partisanenbewegung, nach sowjetischer Lesart über jeder Kritik stehende Vollstreckerin eines "Volkskrieges", als Teil vielschichtiger Auseinandersetzungen unter dem Schirm deutscher Herrschaft. Er behandelt die Auseinandersetzungen zwischen polnischem und sowjetischem Untergrund um die Kontrolle der 1939 als Folge des Hitler-Stalin-Paktes der UdSSR zugeschlagenen ostpolnischen Gebiete. Dabei spricht er auch problematische Aspekte wie mangelnde Führungsfähigkeit der Partisanenbrigaden, Disziplinlosigkeit und sowjetische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung an. Die Isolierung, Entrechtung und Ermordung der weißrussischen Juden wird nicht nur im Rahmen einer sowjetischen Opferbilanz geschildert, sondern auch als eigenständiges und systematisches Ziel deutscher Besatzungspolitik.
Die "kleinen Leute" - 1941 hauptsächlich Weißrussen, Polen, Juden und Russen - schildert Novikaŭ in der trostlosen Situation von Krieg und Fremdherrschaft bei dem Versuch, "Sphären des Überlebens" zu finden. Dies widerspricht der sowjetischen Praxis, jede Form der Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht im Sinne verbrecherischer Kollaboration zu deuten. Das differenzierte Bild Novikaŭs reicht demgegenüber von der Zusammenarbeit im Alltag, die einheimischen Familien durch die Zuweisung von Wohnraum und Nahrungsmitteln das Überleben sicherte, über die graduelle Unterstützung der deutschen Besatzungspolitik bis hin zur Beteiligung von Einheimischen an deutschen Verbrechen. Ein eigenes Kapitel beschreibt die Herangehensweise der sowjetischen beziehungsweise weißrussischen und der deutschen Geschichtswissenschaft an das Thema Zweiter Weltkrieg, stellt sie gegenüber und macht so vorhandene Unterschiede deutlich.
Auf Grund der Sprachbarriere dürften in Deutschland nur wenige Spezialisten die anzuzeigende Studie zur Kenntnis nehmen. Diese bleibt an einigen Stellen - etwa was die Analyse des deutschen Behördenapparates im Deutschen Reich und im "Generalkommissariat Weißruthenien" selbst angeht - sehr allgemein, mitunter vage und ausschnitthaft. Die Gliederung der Arbeit ist nicht immer leicht nachvollziehbar, und auch über die vorgenommene Trennung zwischen einer "sowjetischen", einer "weißrussisch-sowjetischen" sowie einer "aktuellen einheimischen Historiographie" ließe sich diskutieren. Hier hätte sich anstatt der wissenschaftlichen Lagerbildung eher eine Präsentation anhand inhaltlicher Kriterien angeboten.
Diese Einschränkungen schmälern nicht die große Bedeutung des Buches für Leser in Belarus', insbesondere für Studenten der Geschichtswissenschaft. Die Arbeit Novikaŭs erschien unter den Bedingungen eines autoritären Präsidialsystems, das die Geisteswissenschaften nach sowjetischem Muster bevormundet und im Land mit rüden Mitteln ein unkritisches und heroisches Bild vom "Großen Vaterländischen Krieg" als Staatsdoktrin festschreiben möchte. Erstmals liegt nun in Belarus' ein Lehrbuch vor, das eine pluralistische Darstellung der Kriegsereignisse einfordert, ohne dabei jedoch die katastrophalen Auswirkungen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges auf Weißrussland zu verharmlosen oder durch die verklärende Perspektive neuer Nationalismen zu verdecken. Neben seinem Wert für die akademische Ausbildung liegt die zentrale Leistung der vorliegenden Publikation in ihrer Signalwirkung. Die Studie Novikaŭs kann mit dazu beitragen, die weißrussische Geschichtswissenschaft im internationalen Dialog zu verankern und setzt damit einen wichtigen und mutigen Impuls für die Stärkung der Zivilgesellschaft in Belarus'.
Bernhard Chiari