Rezension über:

Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 46), Düsseldorf: Droste 2004, 511 S., ISBN 978-3-7700-1896-3, EUR 39,50
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Rezension von:
Manfred Kittel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Kittel: Rezension von: Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972, Düsseldorf: Droste 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/7149.html


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Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch"

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Weshalb ruft selbst ein ganz vernünftiger Vorschlag des Bundes der Vertriebenen (BdV) - wie der nach einem europäisch ausgerichteten Zentrum gegen Vertreibungen - heute noch so emotionale Repliken hervor? Um das Phänomen besser erklären zu können, bedarf es jedenfalls einer eingehenderen Kenntnis der deutschen Vertriebenenverbände als sie aus einem nicht unerheblichen Teil der vorliegenden "Entrüstungsliteratur" über den BdV (Siehe Salzborn, G. Herde et al.) zu gewinnen ist. Die lange klaffende Forschungslücke einer zusammenfassenden Geschichte der deutschen Vertriebenenverbände hat Matthias Stickler jetzt endlich gefüllt. Dass dies trotz einer günstigen Quellenlage nicht schon früher geschehen ist, führt der Verfasser der Würzburger Habilitationsschrift auf die im Kampf um die neue Ostpolitik entstandene "öffentliche Geringschätzung der Vertriebenenverbände" zurück bzw. auf das Bedürfnis, diese "durch Nichtbeachtung zu marginalisieren" (26).

Neben den einschlägigen Materialien im Bundesarchiv Koblenz, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin), in den Archiven politischer Stiftungen und im Sudetendeutschen Archiv stützt sich Stickler vor allem auf die zugänglichen, aber nach einem Umzug der BdV-Geschäftsstelle teils nur mühsam benutzbaren Bestände des Bundes der Vertriebenen selbst. Besonders hervorzuheben ist die Auswertung des bislang kaum beachteten, in Koblenz liegenden Nachlasses des deutschbaltischen CSU-Bundestagsabgeordneten Georg von Manteuffel-Szoege, dessen Tagebuch bis in die frühen 1960er-Jahre hinein aufschlussreiche Blicke hinter die Kulissen der Vertriebenverbände gestattet.

Methodisch gelingt es der Arbeit, klassische politikhistorische Ansätze mit Verbands- und Institutionengeschichte zu verbinden, wobei auf organisationssoziologische Instrumentarien zurückgegriffen und der BdV unter dem Typus des "Schutzverbandes" behandelt wird. In vier Großkapiteln untersucht Stickler zunächst die Entstehung des BdV 1959 ("Der lange Weg zum Einheitsverband"), Selbstverständnis und Stellung der Vertriebenenverbände im Verbändestaat Bundesrepublik, dann das Verhältnis des BdV bzw. seiner Vorläufer zu den politischen Parteien sowie schließlich die "heimatpolitischen Zielsetzungen" der Vertriebenen.

Welche Erkenntnisse lassen sich nun aus dieser Arbeit gewinnen? Der BdV, das wird einem beim Lesen des Buches mehr und mehr deutlich, war keineswegs die Furcht erregende politische Großkampfmaschine, als die ihn nicht nur die Ostblockpropaganda so gerne zeichnete. Bis 1948 ohnehin durch das alliierte Koalitionsverbot behindert, bestand die Schwäche der Vertriebenenverbände von Anfang an in einer Dichotomie der Interessen, die sich aus der aktuellen Notwendigkeit der Integration im Westen und dem angestrebten Fernziel der Rückkehr in die Heimat im Osten ergab. Denn daraus entsprang eine organisatorische Arbeitsteilung zwischen dem gewerkschaftsähnlichen, auf soziale und wirtschaftliche Themen spezialisierten Zentralverband der vertriebenen Deutschen auf der einen Seite und den Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften auf der anderen, für die eher das heimatpolitische Anliegen der Rückgewinnung der Ostgebiete im Vordergrund stand. Auch als nach erstaunlich erbitterten, langen Kleinkriegen, die Stickler instruktiv analysiert, 1959 ein gemeinsamer Dachverband unter dem Namen "Bund der Vertriebenen / Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände" zu Stande kam, blieb diese Gründung "ein im Grunde fragiles Gebilde" (117), das seinen Mitgliedsorganisationen weit reichende Autonomie ließ - oder lassen musste.

Denn der BdV stellte auch deshalb so ziemlich das genaue Gegenteil eines straffen Zentralverbandes dar, weil in ihm - grob gesagt - zwei große Lager mit heimatpolitisch durchaus nicht identischen Interessen bestanden. Einmal die Sudetendeutschen "mit ihrem südostdeutschen Anhang" (134) aus den Vertreibungsgebieten in der ehemaligen Habsburgermonarchie, daneben aber vor allem die "reichsdeutschen" Landsmannschaften in den von Polen und der Sowjetunion - völkerrechtlich gesehen - vorerst nur verwalteten Ostprovinzen Preußens diesseits der Grenzen vom 31. Dezember 1937. Den Schlesiern, Pommern und Ostpreußen konnte ja nicht verborgen bleiben, dass das Pochen vor allem der schlagkräftigen Sudetendeutschen Landsmannschaft auf dem Heimat- und Selbstbestimmungsrecht sowie deren damit zusammenhängende Position gegenüber dem Münchner Abkommen von 1938 das ohnehin schwach ausgeprägte Verständnis der westlichen Alliierten für die Wiederherstellung der Reichsgrenzen von 1937 nicht eben zu fördern vermochte. So bildete sich noch 1959 eine "Arbeitsgemeinschaft ostdeutscher Provinzen", später "Ständiger Rat der ostdeutschen Landesvertretungen", dessen Entwicklung in den 1960er-Jahren "eindrucksvoll die latente Schwäche des BdV" (136) zeigte, dessen Präsidium keine Handhabe gegen Alleingänge der Landsmannschaften besaß. Hinzu kam die aus der Abhängigkeit von Matrikularbeiträgen der BdV-Mitgliedsorganisationen resultierende notorische Finanznot des "Zentralverbandes", die Stickler ebenso beleuchtet ("Ohne Bundeszuschüsse ist der BdV tot", 148 ff.) wie das Scheitern der Bemühungen, eine repräsentative Tageszeitung auf die Beine zu stellen.

Für manchen sicher überraschend sind die Pläne, die der 1970 zum BdV-Präsidenten gewählte oberschlesische CDU-Abgeordnete Herbert Czaja schon 1966 in einem vertraulichen Schreiben an den Vorsitzenden seiner Bundestagsfraktion, Rainer Barzel, richtete. An eine Rückgliederung der Ostgebiete im Sinne einer nationalstaatlichen Restauration sei nicht zu denken, im Rahmen einer langfristig positiven Entwicklung der europäischen Einigung müsste aber "die Wiederherstellung der personellen und räumlichen Präsenz der Deutschen in den umstrittenen Gebieten oder Teilen dieser Gebiete ohne deren Anschluss an einen deutschen Nationalstaat" (368) geprüft werden. Dabei muss man wissen, dass im BdV schon in den frühen 1960er-Jahren "umfangreiche Berechnungen über die Aufnahmekapazität der Oder-Neiße-Gebiete" angestellt wurden, um zu beweisen, dass dort "Platz für Deutsche und Polen" sei (367). Die Tragik des "aus echter christlich motivierter Versöhnungsbereitschaft" (397) handelnden Czaja sieht Stickler darin, dass seine "im Grunde zukunftsweisenden Pläne", die "keinen Schlußstrich unter 800 Jahre deutsche Geschichte östlich von Oder und Neiße" als Preis für den Krieg, sondern "einen Neuanfang auf der Basis eines gleichberechtigten Miteinanders und eines gerechten Ausgleichs der Gegensätze" erstrebten, den Grundideen der Neuen Ostpolitik zuwider liefen und von dieser konterkariert wurden. Andererseits macht die Studie auch deutlich, wie die Vertriebenenverbände "nicht unerheblich" dazu beitrugen, die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik in den 60er-Jahren "in die Sackgasse" geraten zu lassen. Indem sie "mehrheitlich nicht wahrhaben" wollten, dass die Siegermächte trotz der Blockkonfrontation sich einig darin waren, eine Vergrößerung Deutschlands über die 1945 eingerichteten vier Zonen hinaus nicht zuzulassen (433), motivierten sie mehr oder weniger alle politischen Parteien "zu sophistischen Rhetorikübungen" (394). Insbesondere aber Willy Brandt und die SPD hätten in den 60er-Jahren "ein doppeltes Spiel" (432) getrieben: Während vor allem Herbert Wehner die Vertriebenenklientel umgarnte und mit dafür sorgte, dass die SPD-Bundestagsabgeordneten Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs zu BdV-Präsidenten avancieren konnten, habe Egon Bahr "im Hintergrund" bereits die neue Ostpolitik vorbereitet.

Ist die Heimatpolitik der Vertriebenen, anders als ihre soziale Eingliederung, "vor dem Hintergrund der Ostverträge [...] nicht als Erfolgsgeschichte präsent" (27), so hält Stickler dem BdV und seinen Vorläufern zugute, mit ihrer engen Verbindung zu den großen demokratischen Volksparteien wie "eine Art Resozialisierungsagentur" (332) gewirkt zu haben, die "im Ergebnis für die Integration der Mehrheit der alten nationalen Rechten in die Bonner Demokratie" sorgte und zur politischen Stabilisierung der Bundesrepublik beitrug. Gegen gängige Thesen betont die Studie, gestützt nicht zuletzt auf eine vertiefte Untersuchung des sudetendeutschen Witiko-Bundes, es wäre verwunderlich gewesen, "wenn ausgerechnet bei den Vertriebenenverbänden der Anteil der Mitläufer, Nutznießer und Anhänger des NS-Regimes geringer gewesen wäre als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung"; tatsächlich falle auf, "daß in den Spitzenpositionen der Vertriebenenverbände der Anteil entsprechend belasteter Personen keineswegs überdurchschnittlich hoch war" (320).

Auch an anderen Punkten scheut der Verfasser nicht davor zurück, couragiert Position zu beziehen, etwa wenn er auf einen Paradigmenwechsel in der Vertriebenenforschung der 80er-Jahre hinweist, als im Zeichen des Ideals einer multikulturellen Gesellschaft "Vertreibungsgeschichte gleichsam in Migrationsgeschichte aufgelöst wurde" (14). Die Argumentation Sticklers ist selbst dort, wo man ihr nicht vollständig zu folgen vermag, stets differenziert, wohltuend sachlich und quellenmäßig gut fundiert. Kein Zweifel also: Mit "dem Stickler" liegt nunmehr das Standardwerk zur Geschichte des BdV vor.

Manfred Kittel