Rosamond McKitterick: History and Memory in the Carolingian World, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XVI + 337 S., ISBN 978-0-521-53436-9, GBP 17,99
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Das neue Buch von Rosamond McKitterick beinhaltet zwölf Kapitel, deren ursprüngliche Konzeptionen auf bereits veröffentlichte Aufsätze der letzten zehn Jahre zurückgehen. Die Verfasserin hat sie nach eigener Aussage jedoch vollständig revidiert. Sie werden außerdem durch ein Einleitungs- und Schlusskapitel umfasst sowie durch eine gemeinsame Bibliografie und ein Register ergänzt. Um es vorwegzunehmen, das mühevolle Unterfangen hat sich gelohnt. Manche Stellungnahme ist nun dezidierter formuliert, manche Datierung von Handschriften mit sicherer Überzeugung vorgenommen worden, manche Aufnahme neuester Forschungen, aber auch manche Absage abgerundeter erfolgt. Insgesamt steht damit der überdachte und gefestigte Ertrag von mehr als einer Dekade Forschungen zum Wissenstransfer und zur Kommunikation im karolingischen Frankenreich, fokussiert auf Codices, die historische Schriften beinhalten, dem Rezipienten zur Verfügung.
Ausführliche Einzeluntersuchungen gelten vor allem dem Liber Historiae Francorum, Einhards Vita Karoli Magni, Paulus Diaconus' Historia Langobardorum, den Annales regni Francorum und den Annales Mettenses priores. Durch das erstgenannte Werk sei überhaupt erst eine Definition des Frankenvolkes durch Geschichte unter Anknüpfung an die römische und christliche Kultur in Gallien in einer teilweise völlig frei erfundenen Vergangenheit (Stichwort: Troja-Mythos) geschehen. Das fränkische Interesse an Geschichte umfasste Griechen, Römer, Juden, Goten und Langobarden. Kein historischer Text wurde als unveränderbare Einheit betrachtet. Jeder Text konnte und wurde in Abschriften, Exzerpten, Miszellen oder Auszügen transformiert. Kompilationen gerieten so zu neuen Werken, zugeschnitten nach Bedarf wohl in Reaktion auf ein Publikum. Für sie ist das Attribut "kompiliert" zu wenig und "neugeschaffen" zu viel.
Die Verfasserin hebt den Charakter historischer Werke als Bedarfsliteratur mehrfach hervor. Sie weist beispielsweise darauf hin, dass die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus nicht nur auf die Darstellung einer langen, gemeinsamen langobardisch-fränkischen Bündnisvergangenheit, sondern auch auf eine Warnung an die Franken abzielte mit dem Inhalt, das ist es, was ihr über dieses gerade unterworfene Volk wissen müsst. Sie datiert ferner die Karlsvita von Einhard nicht zuletzt auch aufgrund der Kategorie des Gebrauchs auf etwa 817, wobei sie einen Zusammenhang zur so genannten Ordinatio imperii von 817 herstellt, und mahnt zu Recht, dass die deutsche Forschung diese Frühdatierung bisher nicht zur Kenntnis genommen hat. Zugleich wehrt sie sich aber dezidiert gegen den postmodernen "linguistic turn", der als alleiniges Erklärungsmodell die Historiografie in unzulässiger Einseitigkeit auf eine bloße literarische Geschichte reduziere.
Das Buch kreist insgesamt um die Idee, die Karolingerzeit habe einen Sinn für Vergangenheit gehabt und dieser sei integrativer Bestandteil eines Sinnes für die eigene Identität gewesen. Diese, wenngleich wichtige Kernaussage durchzieht ein wenig redundant alle Kapitel. Es habe darüber hinaus die bewusste Herstellung einer von einem Kollektiv geteilten Erinnerung an vergangene Erfahrungen und an Bilder der Vergangenheit gegeben, die durch mündliche und / oder schriftliche Kommunikation erzeugt wurde. Die Verfasserin verficht vehement die Meinung, dass die so erstellten historischen Werke tatsächlich gelesen wurden und zwar nicht nur durch eine geistig-geistliche Elite, sondern auch durch die soziale Elite der Gewalthaber. Sie stützt sich dabei auf zwei bekannte Grafentestamente, durch die historiografische Bücher vererbt wurden. Wer aber ansonsten zu dem imaginierten Kollektiv gehört haben soll, bleibt notgedrungen im Dunkeln. Es wird die dialektische Frage aufgeworfen, ob bereits der Autor einer historischen Darstellung über seine private Erinnerung hinaus Anteil an der gesellschaftlichen Erinnerung hat, und bejaht. Doch muss die Analyse von Publikum und Leserschaft angesichts des Handschriftenbefunds - viele Schriften sind nicht mehr im Original, vielmehr aus Codices des 10. Jahrhunderts und später erhalten - relativ schwach bleiben.
In diesem Zusammenhang sei ein resignatives Urteil der Verfasserin zum Dynastiewechsel von 751 erwähnt, denn ihrer Ansicht nach, sind die Ereignisse zwischen 749 und 754 nicht mehr zu rekonstruieren. Man solle die fränkische Historiografie darüber als einen politischen und ideologischen Schöpfungsakt betrachten und nicht mehr dahinter vermuten. Damit ist ein Bezugpunkt zu der in der deutschen Forschung aktuellen Debatte um die menschliche Gedächtnisleistung, ausgelöst von Johannes Fried unter Anwendung von Ergebnissen der modernen Hirnforschung, hergestellt, ohne dass die Verfasserin selbst diesen kennt. Es ließe sich noch vieles über dieses sehr lesenswerte Buch schreiben, das die Fachwissenschaftler auffordert, das geistige Gedankengut des 9. und des 12. Jahrhunderts unbedingt zusammen zu betrachten, doch sei stattdessen der resümierende Satz der Verfasserin zitiert: "A sense of the past was deeply integrated into the sense of identity possessed by the audiences for history in the Carolingian world", der losgelöst vom Zeitalter der Karolinger auch für unsere Zeit allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf.
Brigitte Kasten