Agostino Giovagnoli: Il caso Moro. Una tragedia repubblicana (= Biblioteca storica), Bologna: il Mulino 2005, 382 S., ISBN 978-88-15-10473-1, EUR 22,00
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Aldo Moro war einer der wichtigsten und einflussreichsten Politiker in der Geschichte der Republik Italien. Mehrmals Minister und Regierungschef, verkörperte er zusammen mit Persönlichkeiten wie Francesco Cossiga und Giulio Andreotti geradezu die Macht der Democrazia Cristiana (DC), die so gefestigt schien, dass sich manche Zeitgenossen fragten, ob alle Italiener dieser Generation als Christdemokraten sterben würden. Moro gehörte auch zu den überzeugtesten Verfechtern des Gedankens, die Macht der Democrazia Cristiana sei ebenso unantastbar wie ihre politische Klasse. Gleichwohl besaß er genügend Intelligenz, um in den Siebzigerjahren zu erkennen, dass ohne eine Verbreiterung der politischen Basis die hegemoniale Stellung seiner Partei unter dem Einfluss der Protestbewegungen dieser Jahre rasch erodieren würde. Tatsächlich war er es, der die Politik einer "Öffnung nach links" ins Werk setzte, die darum bemüht war, die Kommunistische Partei Italiens (PCI) - die stärkste kommunistische Partei Westeuropas - in die Regierungsverantwortung einzubinden. Im April 1978 gelang es ihm als Parteichef der DC wirklich, eine Regierung unter der Führung Andreottis zu bilden, die sich auf die parlamentarische Unterstützung des PCI stützen konnte, ohne dass dieser freilich Minister ins Kabinett entsandt hätte. Genau an dem Tag, an dem Moro sich in die Abgeordnetenkammer begab, wo die Abstimmung über die neue Regierung anstand, wurde er von einem Terrorkommando der Roten Brigaden entführt, das seine fünfköpfige Eskorte ermordete und ihn 54 Tage lang in einem "Gefängnis des Volkes" gefangen hielt.
Die Entführung Aldo Moros, der schließlich von den Terroristen getötet wurde, erregte enormes Aufsehen. Kurt Waldheim, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, setzte sich ebenso für seine Freilassung ein wie Papst Paul VI. und andere Persönlichkeiten von Rang. Man hatte den Eindruck, als könne in Italien von einem Moment zum anderen ein Bürgerkrieg ausbrechen.
Es ist klar, dass nach einem tragischen Ereignis wie der Entführung und Ermordung Aldo Moros Ströme von Tinte flossen. Doch Zeitzeugen, Kommentatoren der politischen Szenerie und Historiker meldeten sich nicht zuletzt deshalb zu Wort, weil trotz vier Prozessen und zweier parlamentarischer Untersuchungskommissionen vieles im Dunkeln geblieben war. So weiß man - um einige Beispiele zu geben - nach wie vor nicht genau, wie viele Terroristen an der Entführung Moros beteiligt waren, wo er genau festgehalten wurde usw. Für eine der amüsanteren Geschichten zeichnet der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, verantwortlich, der - seinerzeit Universitätslehrer in Bologna - die Richter wissen ließ, er habe "während einer spiritistischen Sitzung" die Information erhalten, dass sich Moros Gefängnis in Gradoli, einem Dorf in Umbrien, befinde. Tatsächlich wurde nach der Ermordung des DC-Chefs ein Unterschlupf der Terroristen in der Via Gradoli in Rom gefunden. Niemand hat Prodi, der offensichtlich über verlässliche Informationen verfügte, jedoch jemals gefragt, woher er diese bezogen habe. Die Geschichte von der spiritistischen Sitzung wurde für glaubwürdig befunden.
Zahlreiche Bücher sind diesen "Mysterien" nachgegangen. Giovagnoli weist jedoch jede Rekonstruktion zurück, die sich darum bemüht, diese dunklen Punkte aufzuklären und konzentriert sich dagegen auf die politische Debatte im Frühjahr 1978. Tatsächlich liegt der Neuigkeitswert des Buches von Giovagnoli vor allem in den Quellen begründet. Seine Studie fußt auf Dokumenten aus den Parteiarchiven von PCI und DC, wo man sich nach der Entführung Moros fragte, ob man Kompromisse mit den Terroristen schließen oder Verhandlungen über eine Freilassung des Politikers ablehnen sollte. Moro schrieb einige Tage nach seiner Entführung einen persönlichen Brief an den damaligen Innenminister Cossiga und schlug einen "Gefangenenaustausch" (also die Entlassung von Mitgliedern der Roten Brigaden aus der Haft) vor, um seine Freilassung zu erreichen. Er rechtfertigte seinen Vorschlag mit dem Argument, dass die Terroristen dabei seien, ihn einem Prozess zu unterziehen, der ihn zu schwerwiegenden und peinlichen Enthüllungen zwingen könnte. Dieser Brief, der eigentlich privaten Charakter haben sollte, wurde von den Roten Brigaden veröffentlicht, die Kopien an die Zeitungen verschickten. Das Echo auf diesen Brief war ungeheuer, denn Moro forderte den italienischen Staat zu nichts anderem auf, als den Roten Brigaden den Status einer kämpfenden Armee zuzuerkennen und sie nicht mehr wie Kriminelle und Terroristen zu behandeln. In der Folgezeit schrieb er viele weitere Briefe, in denen er die DC bat, alles Mögliche für seine Rettung zu unternehmen, auch wenn dies bedeutet hätte, die italienische Justiz schwer zu beschädigen, die sich bis dahin stets geweigert hatte, Terroristen aus den Gefängnissen zu entlassen. Später waren es die Terroristen selbst, die einen "Gefangenenaustausch" forderten und von der DC - die sie als regelrechte Verkörperung der Macht des internationalen Kapitalismus betrachteten - verlangten, sie als kämpfende politische Kraft anzuerkennen. Es entspann sich eine umfassende Debatte, an der sich alle politischen Strömungen beteiligten. Auf der einen Seite sammelten sich die Falken (in diesem Lager standen vor allem der PCI und von Andreotti und Cossiga angeführte Teile der DC), auf der anderen die Tauben (dieses Lager setzte sich aus der Sozialistischen Partei unter Führung ihres jungen Sekretärs Bettino Craxi, der Familie Moro und einigen bedeutenden Würdenträgern der DC zusammen).
Giovagnolis Buch rekonstruiert die internen Diskussionen in den politischen Parteien bis in die Details und bemüht sich darum zu verstehen, welchen Anstößen und Pressionen, aber auch welcher Politik neue Positionen zu verdanken waren. Das Einschwenken Craxis auf eine Verhandlungslösung etwa wird durch das Bedürfnis der Sozialistischen Partei erklärt, sich als autonome politische Kraft zwischen DC und PCI zu präsentieren, während der PCI keinesfalls den Terroristen hätte nachgeben können, wollte er sich nicht der Anklage aussetzen, mit den Roten Brigaden unter einer Decke zu stecken, die sich in gewisser Weise ebenfalls auf den Marxismus beriefen. Kurz: Der PCI musste die bestehenden Institutionen verteidigen, wollte er als Teil der herrschenden politischen Klasse anerkannt werden.
Das hier besprochene Buch ist ohne Zweifel ausgesprochen interessant, es hat allerdings einen wunden Punkt: Der Autor ignoriert konsequent alle offenen Fragen und stellt die Ereignisse so dar, als ob alles klar und vor aller Augen geschehen sei. Als beispielsweise nach der dringenden Forderung Moros der nationale Parteirat der DC einberufen worden war, der sich, so dachte man, für die Aufnahme von Verhandlungen hätte aussprechen können, wurde der christdemokratische Parteichef ermordet. Folgt man Giovagnoli, so waren sich die Roten Brigaden der Chance nicht bewusst, die die Einberufung des nationalen Parteirats bedeutete. Dass aber die von der DC geradezu besessenen Roten Brigaden eine solche Gelegenheit nicht erkannt hätten, ist schwer zu glauben und wohl in das Reich der viel diskutierten "Mysterien" zu verweisen, die - solange sie nicht von den ehemaligen Protagonisten aufgeklärt werden - jede auf der Basis des heute verfügbaren Wissens basierende Rekonstruktion der Ereignisse als vorläufig und unbefriedigend erscheinen lassen.
Amedeo Osti Guerrazzi