Alfons Labisch / Norbert Paul (Hgg.): Historizität. Erfahrung und Handeln - Geschichte und Medizin (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Beiheft 54), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 301 S., ISBN 978-3-515-08507-6, EUR 50,00
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Die Medizingeschichte steht seit jeher in einem so produktiven wie problematischen Spannungsfeld der Erwartungen zweier Fächer: zum einen ihrer Bezugsdisziplin, der universitären Medizin, aus der sie sich großen Teils personell rekrutiert und in der sie institutionell verankert ist, und zum anderen ihrer methodisch-theoretischen Leitwissenschaft, der Geschichtswissenschaft. Sie ist aufgefordert, einerseits für die Medizin selbst interessant und relevant zu bleiben und andererseits den Anschluss an die neuesten historiografischen Trends und Themen zu halten.
Zu den Medizinhistorikern, die nicht nur anspruchsvolle historische Untersuchungen vorgelegt haben, sondern auch in den medizinischen Fakultäten große Anerkennung genießen, gehört Alfons Labisch, Rektor der Universität in Düsseldorf. Wenn der Mediziner, Sozialhistoriker und Universitätspolitiker Labisch also, gemeinsam mit seinem Mainzer Schüler und Kollegen Norbert Paul, einen Sammelband vorlegt, der schon im Titel das Verhältnis von Geschichte und Medizin als solches zu behandeln ankündigt, sind die Erwartungen hoch.
Der besprochene Band versammelt in Bezug auf die Leitkategorien "Historizität", "Kontingenz", "Erfahrung" und "Handeln" siebzehn Beiträge, deren Entstehung ursprünglich auf die Jahresversammlung der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik (DGGMNT) des Jahres 2000 zurückgeht. Er gliedert sich in die thematischen Abschnitte "Das Problem von Historizität und Kontingenz" (39-64), "Historizitäre Grundlagenprobleme" (67-99), "Historizitäre Fragen von Erfahrung und Handeln" (103-210), "Historizität als pragmatisches Erkenntnismittel" (213-250) und "Ausblicke" (253-277). Nur einige wenige der Beiträge können hier im Detail angesprochen werden. Das sollen, im Sinne des im Titel gestellten Anspruches, in erster Linie diejenigen sein, die sich um eine methodisch-theoretische Standortbestimmung der Medizingeschichte bemühen beziehungsweise dafür herangezogen werden können.
Bereits in seinem einführenden Aufsatz (11-36) unternimmt es Alfons Labisch selbst, Grundbausteine einer Medizingeschichte zu skizzieren, die sowohl für praktizierende Mediziner relevant als auch für professionelle Historiker theoretisch gültig sein sollte. Die zentrale Wichtigkeit von Erfahrung, Handlung und Kontingenz in beiden Fächern begründe dabei die enge Verbindung von Medizin und Geschichte. Da nun, so Labisch, aus der Geschichte Aussagen über Handlungsräume der Vergangenheit hervorgingen, deren Übertragung auf Handlungsräume der Gegenwart versucht werden könne, reduziere Geschichte die Kontingenz gegenwärtigen Handelns und weise so aktuelle Handlungsoptionen auf. "Das Ziel derartiger Operationen wäre, durch einen Blick in die Vergangenheit den Schleier der Zukunft ein wenig zu lüften, um aktuelle Handlungsoptionen mit einer perspektivischen Gewissheit zu versehen" (20), meint Labisch und führt zur Bestimmung von Medizingeschichte aus: "Aufgabe der Medizingeschichte ist es demzufolge, den Aspekt der Erfahrung in der Medizin mit den gültigen Methoden der Historiographie zu bearbeiten und die jeweiligen Erkenntnisse für die Medizin nutzbar zu machen" (25).
In einem doppelt verankerten Fach wie der Medizingeschichte muss besonders gefragt werden, was die dekonstruktivistischen Neigungen der Geisteswissenschaften der letzten zwei Jahrzehnte an öffentlich vermittelbaren Ergebnissen geschaffen haben. Labischs Überlegungen weisen also ins Zentrum der augenblicklichen Situation des Faches und sind sehr verdienstvoll. Dennoch bleiben sein sehr komplexes und spezifisches Verständnis von Historizität (19) und einige wichtige Themenbereiche trotz hohen Abstraktionsgrades leider etwas unscharf: Dass zum Beispiel menschliches Handeln an Kontexte gebunden ist und nicht intendierte Konsequenzen hat, ist nicht wirklich neu, auch wenn es hier mit sozialwissenschaftlicher Präzision fachspezifisch formuliert vorgetragen wird. Dass in der Medizin - wie ja überall im sozialen Leben - gehandelt wird und diese Handlungen Gegenstand von Geschichtswissenschaft werden können, begründet nach Meinung des Rezensenten auch nur eine extrem generelle, aber keine spezielle Geistesverwandtschaft von Medizin und Geschichte. Ein höchst anregender Beitrag also, der aber auch einige Fragen offen lässt.
Der Kulturhistoriker Friedrich Jäger bemüht sich im zweiten Beitrag des Bandes (39-55) um den Begriff der Kontingenz in den historischen Kulturwissenschaften. Ausgehend von Burckhardt versucht er über die Stationen Weber und Dewey zu verfolgen, wie historisches Denken als eine Arbeit an Problemen der Lebenspraxis verstanden und kulturelle Orientierung als Verarbeitung von Kontingenz gesehen werden kann. Jäger zeigt damit indirekt auch einen Theoriehorizont wie eine Traditionslinie für eine sich als orientierungsschaffend verstehende Medizingeschichte auf. Seine Gedanken ergänzen die Überlegungen Labischs in sehr sinnvoller Weise. Kritisch zu seinem informativen, dicht geschriebenen Beitrag ist allerdings anzumerken, dass der Begriff der Kultur hier oft so weit gefasst ist, dass er sich analytischer Bestimmung bisweilen entzieht. Auch bringt die Betonung klassischer Texte eine gewisse Vernachlässigung aktueller Diskussionen zu Kulturbegriff und Geschichtswissenschaft mit sich. Ein Beitrag des Mediziners Ulrich Hadding zu Erwartungen der Medizin an die Medizingeschichte (57-64) schließt die erste, einführende Sektion des Bandes ab.
Damit beginnen die Untersuchungen zu Einzelfragen. Ein zweiter Abschnitt mit dem Titel "Historizitäre Grundlagenprobleme" umfasst dazu Beiträge von Alberto Jori zu Auffassungen der Medizin im Corpus Hippocraticum (67-89) und Tobias Cheung zum Wechselspiel von Biologie und gesellschaftlichen Leitbildern bei Georges Cuvier (91-99). Der dritte Abschnitt, "Historizitäre Fragen von Handeln und Erfahrung", versammelt Lutz Alexander Graumann zum Problem retrospektiver Diagnosen für antike Krankengeschichten (103-119), Klaus-Dieter Thomann und Michael Rauschmann zu historischen Metamorphosen des heute so genannten "Schleudertraumas" (153-169), Sabine Schleiermacher zur Leitidee von Prävention und Prophylaxe in unterschiedlichen politischen Kontexten (171-177), Udo Schagen zur Geschichte der Kranken- und Sozialversicherungssysteme (179-187), Giovanni Maio zur Entwicklung der ärztlichen Ethik in Frankreich (189-200) und abschließend Norbert Paul zu Sicherheit und Risiken von Gentherapien in den letzten zwanzig Jahren (201-210). Diese Beiträge haben oft den Charakter chronologisch gegliederter Beschreibungen, sind meist übersichtlich angelegt und gut geschrieben und für ihre jeweiligen Themenbereiche sicher wertvoll. Leider sind sie in ihrer Mehrzahl eher nominell mit den Leitkategorien des Bandes verknüpft. Besonders erwähnenswert ist der schöne Aufsatz von Christoph auf der Horst zur "Historizität der Diagnosestellung am Beispiel der Syphilis-Diagnosen Heinrich Heines" (121-151). Auf der Horst entwirft darin eine Systematik pathografischen Vorgehens, die gut zu lesen ist, methodisch-theoretische Maßstäbe setzt und zu einem Referenztext in diesem Forschungszusammenhang werden sollte.
Ein vierter Abschnitt des Bandes, "Historizität als pragmatisches Erkenntnismittel", beginnt mit dem Versuch Labischs (213-226), seine anfangs ausgeführten Konzepte selbst anzuwenden, indem er in vier Schritten einen Vergleich zwischen der frühen Bakteriologie seit etwa 1880 und der augenblicklichen Situation der Molekularen Medizin zieht und versucht, darauf aufbauend deren zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten zu umreißen. Hier wird durchaus klar, wie Medizingeschichte für augenblickliche Problemstellungen der Medizin sensibilisieren kann. Dass so ein Vorgehen auch Fallstricke birgt, wird leider nicht thematisiert. Es folgen noch Beiträge von Heike Petermann und Michael Sachs zur Geschichte der Anästhesie (227-237) respektive Appendektomie (239-250), bevor der Band unter dem Titel "Ausblicke" mit Überlegungen von Guenter Risse zur Krankenhausgeschichte (253-263) und Hermann Lübbe zur Konjunktur des Historischen in der Moderne (265-277) schließt.
Es ist nicht einfach, zu einem abschließenden Urteil über eine so vielfältige Veröffentlichung zu kommen. Die darin anzutreffenden Überlegungen zur Position der Medizingeschichte liefern fruchtbare, teilweise sicher auch kontroverse Anregungen. Die einzelnen Aufsätze sind von unterschiedlicher Qualität, im Einzelnen stößt man immer wieder auf interessante und wertvolle Gedankengänge und Beobachtungen. Allerdings bleiben die Leitkategorien "Historizität", "Kontingenz", "Erfahrung" und "Handeln" eher eine Art Gravitationszentrum der Überlegungen, als dass sie zu einem wirklichen gemeinsamen Nenner werden. Um eine genaue Bestimmung der Position der Medizingeschichte zwischen Geschichtswissenschaft und Klinik zu erreichen, wären sie noch zu präzisieren und auch in die allgemeine historiografische Theoriediskussion einzuordnen - nicht alle Texte des Bandes entgehen bei ihrer Verwendung der Gefahr analytischer Beliebigkeit. Insgesamt schlägt der Band in seiner theoretischen Ausrichtung einen etwas konservativeren Ton an als andere rezente Versuche einer Standortbestimmung der Medizingeschichte. Ob damit wirklich eine größere Akzeptanz des Faches in der Medizin erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.
Nicholas Eschenbruch