Frank Stern / Maria Gierlinger (Hgg.): Ludwig Börne. Deutscher, Jude, Demokrat, Berlin: Aufbau-Verlag 2003, 272 S., ISBN 978-3-351-02558-8, EUR 17,90
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"Börnes Bedeutung für die Gegenwart liegt meines Erachtens einerseits in dem großen und bleibenden Gesichtspunkte, den er in den Kämpfen seiner Zeit festhielt, andererseits in seinen unpolitischen Schriften. [...] Weil Börne über seiner Zeit stand, ist er der unseren so nahe und wird jeder Generation, wo sich Glaubenshass und politische Unfreiheit regen, ein Mahner und Lehrer. Und ferner: er ist ein Humorist von unvergänglicher Bedeutung." [1] Diese Einschätzung Börnes seitens eines ebenso beinahe vergessenen Kollegen, Karl Emil Franzos, umreißt gleichsam Motto und Bemühen des von Frank Stern und Maria Gierlinger herausgegebenen Sammelbandes: In Deutschland wenig gelesen, ist er in den USA und Israel nahezu unbekannt.
Dreizehn Wissenschaftler gingen in einer internationalen Konferenz in Jerusalem 2001 verschiedenen Aspekten des Lebens und Wirkens des politischen Literaten nach. Ihre Aufsätze sind unter vier Abschnitten versammelt, die sich mit Börnes Persönlichkeit, seinem Werdegang, seinem literarischen Schaffen, seinen Liebschaften und Feindschaften beschäftigen, unter denen die prominenteste zu Heinrich Heine einen besonders großen Raum einnimmt. Immer steht auch der Jude, den Ludwig Börne mit Löw Baruch hinter sich gelassen zu haben glaubte, im Mittelpunkt des Interesses. Denn, wie der 1818 zum Protestantismus konvertierte Börne selbst bemerkte: "Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die anderen verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür, aber alle denken daran" (114).
Ein genauerer Blick auf den ersten Abschnitt ist aufschlussreich für Inhalt und Aufbau des Bandes: Liane Weissberg folgt mit feinem literarischem Gespür der Biografie des Jungen Juda Löw oder Löw Baruch aus der Frankfurter Judengasse durch seine medizinische Ausbildung und persönliche Entwicklung in den der Aufklärung zugewandten Salons Berlins. Dort, in der Metropole, wurde er von Löw zu Lion, dann zu Louis, wurde er vom Medizinstudenten zum Journalisten und Schriftsteller Ludwig Börne, wie er sich nach seiner Konversion 1818 nannte.
Will Jasper, der 2003 im selben Verlag eine Börne-Biografie mit dem Untertitel "Keinem Vaterland geboren" vorlegte, beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Die deutschen Mandarine und Ludwig Börnes Judenschmerz" mit der Goethe- und Hegelverehrung sowohl der Zeit im Allgemeinen als auch der deutschen Juden im Besonderen. Differenziert nimmt er die Ausgrenzung gerade der jüdischen Intellektuellen unter die Lupe. Heftig setzte sich der "von der herablassenden Arroganz der deutschen Mandarine persönlich gekränkte Ludwig Börne" (45) mit Goethe und dessen Verehrern auseinander. Doch es war "weniger Goethes Ästhetische Macht als solche, die Börne bekämpft, sondern das Aristokratisch-Konservative in der Ästhetischen Machtausübung" (49).
Deborah Hertz widmet sich unter dem Titel "Sexualpolitik und jüdische Politik im Leben Ludwig Börnes" den Frauen im Leben des Schriftstellers. Sie argumentiert, Börnes Hinwendung zum Protestantismus sei in erster Linie als Modernisierungsschritt zu sehen. Börne "interpretierte Christentum in einem breiten säkularen Rahmen als die normative Zivilisation jener Tage und sah darin nicht unbedingt die Religion als zentral an" (75). Für weitere Forschungen über Ludwig Börne regt sie an, sich mit dem Phänomen "jüdischer Selbsthass", wie er profund von Sander Gilman neu untersucht wurde, kritisch auseinander zu setzen. An die psychologischen Implikationen knüpft Dieter Lamping an mit der Frage "Ein Vorläufer der Psychoanalyse? Börne, von Freud gelesen". Er kommt zu dem wenig überraschenden Schluss: "Auch wenn man Börne in einem qualifizierten Sinn kaum als Vorläufer der Psychoanalyse bezeichnen kann - Freud war erkennbar mehr als in einem oberflächlichen Sinn ein Leser Börnes" (102).
Deutlich wird bereits in diesem ersten Abschnitt die Bedeutung der Intertextualität, das Bemühen um Referenzautoren und Referenzgrößen, das auch die Abschnitte drei "Über Komödianten und andere Politiker" und vier "Ludwig Börne und Heinrich Heine: Ein literarisches Duell" prägt. Bernhard Greiners Aufsatz "Zwischen wandernden und hausenden Komödianten die Mitte: Börnes theatralisches Schreiben" fasst mit hoher Finesse und präziser literaturwissenschaftlicher Methodik paradigmatisch zusammen, was die unter demselben Rubrum befindlichen Mark H. Gelber ("Ludwig Börnes Theaterkritik und der Antisemitismus: seine Besprechungen K.B.A. Sessas und Shakespeares") und Ruth Eitan ("Das Leiden des Schriftstellers: Ludwig Börne und August von Kotzebue") exemplarisch ausführen. In diesen beiden Abschnitten ist eine Dramaturgie des Aufbaus ersichtlich, wenngleich das immer wieder beackerte Thema der Auseinandersetzung Heine-Börne mit nur zwei (wenn auch sehr guten) Aufsätzen etwas angehängt wirkt. Den aus dem Englischen übersetzten Texten hätte man zuweilen eine professionellere Redaktion gewünscht.
Der zweite Abschnitt "Paris: Das Jerusalem des Westens" fällt aus dieser doch stark literaturwissenschaftlich-komparatistischen Zusammenstellung etwas heraus. Historisch-kulturwissenschaftlich wird nicht nur dem Leben der deutschen Juden in der französischen Hauptstadt nachgegangen. Auch die politischen Strömungen der Zeit, die Entwicklung des modernen Journalismus, der in Börne einen Exponenten fand, und die Perspektive des Kulturtransfers anhand philosophischer Fragen werden hier diskutiert. Dem Projekt einer inhaltlichen Neuorientierung der deutsch-jüdischen Studien, wie die Herausgeber sie fordern, kommt der Band in diesem Abschnitt am nächsten. Hier stellt sich auch die Frage nach dem Aufbau des vorliegenden Buches sowohl in der Unterteilung der Abschnitte als auch in der Folge der Aufsätze unter den einzelnen Kapiteln, die nicht immer so ganz logisch erscheinen mögen. Die Auseinandersetzung mit dem Judentum, der Kampf mit den Wurzeln und die Selbstdefinition, die in fast allen Aufsätzen mitschwingen, bleiben seltsam blass und unbeachtet. Gerade hier hätten sich neue Fragestellungen eröffnen können, war und ist doch die Frage nach dem "Weg als Deutscher und Jude" - so pointiert von Jakob Wassermann gestellt - stets virulent. Doch liegt darin paradoxerweise auch die Stärke des Bandes: Er regt zum Weiterlesen und Weiterdenken an.
Internationalität und Interdisziplinarität sorgen für Facettenreichtum, aber auch für teilweise größere Überschneidungen. Die in diesem Band versammelten Literaturwissenschaftler und Philosophen, Historiker und Komparatisten, Judaisten, Romanisten sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gender Studies stehen mit ihren Disziplinen und internationalen Forschungs- und Arbeitsorten stellvertretend für das erklärte Ziel des Herausgeberduos: "Eine kulturelle Wahrnehmung, eine kritische Integration von Ludwig Börne in Wissenschaft und Publizistik könnte ebenfalls gleichbedeutend sein mit einer inhaltlichen Neuorientierung in den deutsch-jüdischen Studien weg von der politischen, geschichtswissenschaftlichen und germanistischen Fixierung hin zu einer kulturellen und kulturwissenschaftlichen Öffnung" (13). Frank Stern macht aus seiner Begeisterung für seinen "kulturellen Helden" (17), dem er eine "publizistische Renaissance" wünscht, keinen Hehl und stellt dem Band ein in erster Linie persönliches Vorwort voran, das sich appellativ der Leserschaft zuwendet: "Vielleicht fangen wir einfach damit an, seine Artikel und Prosa wieder zu publizieren, zu lesen und auch über sie zu sprechen" (18). Zwischen persönlicher literarischer Begeisterung, archäologisch-germanistischem Schatzgräbertum und wissenschaftlicher Akkuratesse oszillieren denn auch die versammelten Aufsätze.
Entstanden ist eine meist vergnüglich zu lesende Hommage an einen, wenn nicht vergessenen, so doch derzeit wenig rezipierten Essayisten und Denker, die vor allem auch jenseits der Wissenschaftsgemeinde ihre Leserschaft finden dürfte. Und damit ist das eingangs erwähnte Ziel in Sichtweite gerückt: Ludwig Börne jenseits der Elfenbeintürme wieder etwas bekannter zu machen.
Anmerkung:
[1] Karl Emil Franzos in einem Brief an einen Verleger, 1880; zitiert nach: Oskar Ansull (Hg.): ZweiGeist - Karl Emil Franzos. Ein Lesebuch, Potsdam 2005, 189.
Andrea Hoffmann