Rezension über:

Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hgg.): Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit (= Irseer Schriften. Studien zur schwäbischen Kulturgeschichte. N.F.; Bd. 2), Konstanz: UVK 2004, 259 S., ISBN 978-3-89669-692-2, EUR 29,00
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Rezension von:
Johannes Bracht
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bracht: Rezension von: Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hgg.): Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz: UVK 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/7296.html


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Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hgg.): Vorindustrielles Gewerbe

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Der Tagungsband "Vorindustrielles Gewerbe" versammelt zehn Aufsätze, die aus Vorträgen der zweiten Tagung des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Frühjahr 2002 hervorgegangen sind. Insbesondere der Tätigkeit dieses Arbeitskreises ist es zu verdanken, dass Gewerbe- und Handwerksgeschichte nach der Hausse der Protoindustrialisierungsforschung einen institutionellen Rahmen fand und sich neuen Fragestellungen öffnete. Mit dem zu rezensierenden Band nun wurden Arbeitsbeziehungen und Produktionsformen in verschiedenen Gewerben vornehmlich der Frühen Neuzeit in den Blick genommen.

Der Band ist in vier Bereiche gegliedert, von denen der erste, konzeptionell angelegte, Aufsätze von Christof Jeggle und Michael Herdick umfasst. Jeggle plädiert für Gewerbegeschichte sozialgeschichtlicher und historisch-anthropologischer Prägung. So könnten die Beziehungen zwischen am Produktionsprozess beteiligten Personen in den Vordergrund treten. Ziel sei das "Ausloten strukturierter Handlungsoptionen". Der Beitrag arbeitet eloquent neue Perspektiven der Gewerbegeschichte heraus, doch hätte der Rezensent gerne gesehen, wenn Jeggle einige der Anstöße in einem empirischen Beitrag aufgenommen hätte. Michael Herdick analysiert archäologische Befunde von gewerblichen Standorten des Früh- bis Spätmittelalters und prüft sie auf ihren allgemeinen Aussagewert über die Standortwahl und die Organisation von Gewerben im Mittelalter hin. Damit verdeutlicht Herdick, wie Gewinn bringend eine Integration archäologischer Ergebnisse gerade für die Wirtschaftsgeschichte sein kann.

Die weiteren Abschnitte umfassen Aufsätze zur "Textilproduktion in der Frühen Neuzeit" und zur "gewerblichen Arbeit in Augsburg". Sie sollen an dieser Stelle unter drei Hauptproblemen der Forschung behandelt werden. Zum Ersten ist hier die Verflechtung von Stadt und Land hervorzuheben. Dietrich Ebeling untersucht das binnenregionale System der Textilherstellung um Aachen unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes beziehungsweise der Beschäftigungsstruktur. In der Region gab es verschiedene, voneinander im Produktionsprozess abhängige Standorte in Stadt und Land. Mit am interessantesten ist dabei, dass Ebeling protoindustrielle Pendler zwischen Land und Stadt benennen kann, was in der Konsequenz die Frage nach den Bedingungen des Arbeitsmarktes in der Branche aufwirft. Auch Anke Sczesny behandelt, am Beispiel Ostschwabens, städtische und ländliche Gewerbe in ihrem Verhältnis zueinander. Zu Beginn der Neuzeit waren die Gewichte hier klar verteilt: Die Städte dominierten mit Bannmeilen das Land. Mit den ländlichen Zünften, die meist im 17. Jahrhundert gegründet wurden, und aufgewerteten Marktorten mussten die Städte sukzessive ihre Macht teilen. So etablierte sich im 18. Jahrhundert eine in wichtigen Punkten ausgeglichenere Struktur, die nach Sczesny eher Verflechtung und Komplementarität als eine Konkurrenzsituation darstellte.

Als zweites behandeltes Forschungsproblem ist die Wirkung von Zünften in der vorindustriellen Wirtschaft zu nennen. Wie mehrere Autoren zu Recht betonen, ist das vorherrschende Bild von sich abschließenden, innovationsfeindlichen und wachstumshemmenden Zünften einer Überprüfung zu unterziehen. Gerade in Bezug auf die ländlichen Zünfte, in denen nach heutigem Forschungsstand und entgegen dem Protoindustrialisierungskonzept vielleicht sogar die Mehrheit der ländlichen Gewerbe verfasst war, werden hier Korrekturen angebracht. Die von Sczesny untersuchten ländlichen Textilgewerbe Ostschwabens waren seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ausnahmslos zünftisch verfasst. Die Gründung dieser Landzünfte ging meist von den Landwebern selbst aus, und zwar nicht aus eigenen defensiven Abschließungsmechanismen heraus, sondern um den Zugangsvoraussetzungen der städtischen Märkte zu genügen und sich diese zu erschließen. Die städtischen Zünfte versuchten die Landzünfte zu verhindern und Landhandwerker zu integrieren. Was die Stadtzünfte jedoch gegenüber den ländlichen auszeichnete, war gerade ihre Innovationsfähigkeit, so in Augsburg bei der Einführung des Kattundrucks. Auch der in Michaela Schmölz-Häberleins Beitrag untersuchten ländlichen Weberzunft des Oberamts Hochberg am Oberrhein scheinen keine Abschließungsmotive eigen gewesen sein. Nicht Schutz vor Konkurrenz gab hier den Ausschlag zur Gründung, sondern die Herausbildung eigener Richtlinien und Normen zur Steuerung des internen Wettbewerbs. Dem Eindruck, Zünfte hätten per se wachstumshemmend gewirkt, widerspricht Ebeling. Einerseits war in Bezug auf die Zulassung größerer, arbeitsteiliger Betriebe der politische Einfluss der Aachener Zünfte begrenzt. Andererseits war es angesichts einer hohen Nachfrage nach Scherern opportun, auch die Arbeitskraft nichtzünftisch ausgebildeter Scherer in Anspruch zu nehmen. Philip R. Hoffmann betrachtet hingegen die Abwehrmaßnahmen der Lübecker Zünfte gegen die "Bönhasen", also die "freischaffenden" Handwerker ohne Zunftzugehörigkeit. Hoffmann macht klar, dass es sich bei der Bönhaserei sowohl um eine ökonomische Realität handelte als auch um ein diskursives Mittel, um illegales oder illegitimes Geschäftsgebaren anzuprangern. Inge Keil behandelt den Aufstieg des zunftfreien Optikers Johann Wiesel (1583-1662) in Augsburg. Keils Darstellungen tragen innerhalb des Sammelbandes dazu bei, über an Sortiment und Produktion orientierte Differenzierungen des Begriffs Handwerk nachzudenken.

Ein drittes Thema, dem sich mehrere Beiträge widmen, stellen die vorindustriellen Betriebsformen und Beschäftigungsverhältnisse dar. Herdick weist darauf hin, dass es "eine einzige mittelalterliche Produktions- und Arbeitsorganisation", gültig für unterschiedliche Branchen und Regionen, wohl nicht gab. Von größerem Interesse dürfte seine Hypothese zur frühmittelalterlichen Textilherstellung sein, derzufolge es sowohl sehr nahe an Herrschaftszentren gelegene manufakturähnliche Betriebe als auch dezentrale ländliche Gewerbesiedlungen gegeben hat. Beide Betriebsformen können auf unterschiedliche Märkte ausgerichtet gewesen sein: herrschaftsnah für den lokalen, dezentral ländlich für den überregionalen Bedarf. Im von Sczesny behandelten ostschwäbischen Textilrevier vollzog sich der Warenverkehr zwischen Produzenten und Konsumenten, beziehungsweise meist Weiterverarbeitenden, zum großen Teil unmittelbar, was das Verlagskapital als wichtigsten Akteur einer Protoindustrialisierung nicht zum Zuge kommen ließ. Zu agrarisch-gewerblicher Verflechtung durch Hanfanbau und heimgewerblicher Verarbeitung kam es in dem von Schmölz-Häberlein untersuchten oberrheinischen Gebiet. Produziert wurde in verlagsähnlichen Verhältnissen, jedoch offenbar auf individuelle Bestellung und für wechselnde Abnehmer. Manche Weber versuchten, auf eigene Rechnung zu weben und zu vertreiben, scheiterten aber aufgrund des hohen Kapitalbedarfs. Andere nahmen selbst Spinnerinnen in Lohn. Ebeling konstatiert ebenfalls eine Vielfalt von Betriebsformen und Beschäftigungsverhältnissen innerhalb der Region um Aachen. Gesponnen wurde gegen Lohn in zentralen Spinnereien, Weber und Scherer arbeiteten hingegen meist selbstständig, die einen meist hausindustriell, die anderen hingegen in zentralisierten Betrieben. An die Stelle dieses von Ebeling "dezentrale Manufaktur" genannten Systems trat nach 1800 die zentralisierte Fabrik, für deren Einführung Ebeling vor allem die Nachteile der dezentralen Struktur verantwortlich macht: Die ländlichen Spinnerinnen konnten die erforderlichen Produktionsmengen nicht mehr leisten, zudem kam es zu immer größeren Verlusten durch Unterschlagungen der Heimarbeiter. Christine Werkstetter richtet demgegenüber ihr Augenmerk auf die Arbeitsorganisation im Handwerk. Sie überprüft an Augsburger Beispielen die These vom Wandel des Handwerksbetriebs von einer Familienökonomie mit gleichrangiger Mitarbeit der Frauen hin zu einem "professionalisierten" Handwerk von ausschließlich männlichen Lehrlingen, Gesellen und Meistern. Die Hierarchisierung von weiblicher und männlicher Arbeit im Handwerk sei eher Ideal der zeitgenössischen Auseinandersetzung über das Handwerk und weniger Abbild der realen Situation gewesen.

Zwei Aufsätze befassen sich schließlich direkt mit den Innungen, mit ihren Funktionseliten und den Inhalten ihrer Politik. Im Zentrum von Thomas Buchners Aufsatz steht die Analyse der Auswahl der Zunftvorsteher in Wien und Amsterdam. Buchners Auswertungen lassen sowohl auf Seiten der Zunftgenossen als auch der Stadtoberen verschiedene Strategien der "Oligarchisierung" und der politischen Stärkung und Schwächung der Zünfte erkennen. Gerade die Fragestellung nach interessengeleitetem Handel in Wahl- und Rekrutierungsverfahren und personaler Kontinuität von Eliten bietet viel Raum für weitergehende Analysen. Der abschließende Aufsatz von Robert Brandt knüpft in gewissem Sinne an mehrere vorangehende Beiträge an, indem politische Positionen und somit auch Aspekte eines Selbstbildes des Handwerks analysiert werden. Bei den innerstädtischen Konflikten in Frankfurt am Main beanspruchte das Argument der "Nahrungssicherung" breiteren Raum. Noch stritt niemand zu Gunsten einer zunehmenden Marktintegration, obwohl sie faktisch fortschritt und neue Existenzmöglichkeiten bot. Besitzstandswahrung und das Streben nach Existenzsicherung allerdings ist, wie Brandt richtig feststellt, keine dem Handwerk innewohnende Mentalität, die sich mit zunehmender Modernisierung verflüchtigte.

Zusammen genommen bieten die zehn Beiträge Anknüpfungspunkte für eine nachhaltige Belebung der Handwerks- und Gewerbegeschichte. Gerade in den hier hervorgehobenen Aspekten des Bandes scheint in einem sozialhistorischen Zugriff, der soziale Beziehungen in den Vordergrund stellt, neue Modellbildung möglich, auch um neue Differenzierungen zu ermöglichen, wo alte Eindeutigkeiten weggefallen sind.

Johannes Bracht