Rezension über:

Alexandra Dern: Scipione Pulzone (ca. 1546-1598), Weimar: VDG 2003, 281 S., 100 s/w-Abb., ISBN 978-3-89739-330-1, EUR 49,50
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Rezension von:
Heiko Damm
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Heiko Damm: Rezension von: Alexandra Dern: Scipione Pulzone (ca. 1546-1598), Weimar: VDG 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/6431.html


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Alexandra Dern: Scipione Pulzone (ca. 1546-1598)

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Wenn dem Nachruhm des aus Gaeta stammenden Scipione Pulzone auch durch die Stilumwälzungen des Frühbarock Grenzen gesetzt waren, so darf er doch zu den faszinierendsten Erscheinungen der römischen Malerei vor dem Auftreten der Carracci und Caravaggios gerechnet werden. Seine stets mit äußerster Sorgfalt ausgeführten Gemälde bestechen durch die sichere Erfassung der Physis wie durch delikate Wiedergabe kostbarer Stoffe und schmückender Accessoires, sie erweisen ihn als Spezialist für alles Ebenmäßige, Schimmernde und Filigrane und bezeugen überdies einen hoch entwickelten Sinn für die ornamentale Gliederung der Bildfläche. Die spektakuläre Kreuzigung in der Caetani-Kapelle der Chiesa Nuova hat die Zeitgenossen beeindruckt und immer wieder Bewunderer gefunden, doch war "il Gaetano" nur noch Spezialisten bekannt, als ihn vor nahezu fünfzig Jahren ein bei Einaudi erschienenes Taschenbuch wieder ins Bewusstsein rückte. [1]

Dass Federico Zeris hundertseitiger Essay über das mit profunder Kennerschaft zusammengestellte Werk Pulzones hinaus auch in die Kontexte von "Malerei und Gegenreformation" griff, sicherte ihm das Interesse einer breiteren Leserschaft; die Intuitionen seiner perspektivreichen Problemskizze wurden u. a. von Francis Haskell dankbar aufgegriffen. Nicht zuletzt war schon im Titel des mehrfach aufgelegten Buches der seither unlösbar mit Pulzone verquickte Begriff der "arte senza tempo" geprägt, dessen topischer Gebrauch in der italienischen Kunstgeschichte eine eigene Untersuchung wert wäre. Was Zeri selbst damit umschrieben wissen wollte, ist nicht leicht zu bestimmen. Seine "zeitlose Kunst" (im Original, 84 deutsch) changiert zwischen einem rezeptionsästhetischen und einem metahistorischen Aspekt: Zum einen zielt sie auf die scheinbare Stillstellung der Zeit innerhalb der Bilderzählung als irritierende Re-Ikonisierung der neuzeitlichen Storia, zum anderen auf die Zeitenthobenheit des auf seine religiöse Funktion beschränkten Bildes, das an der fortschreitenden Autonomisierung der Kunst keinen Anteil mehr nimmt.

Mit Alexandra Derns Münsteraner Dissertation von 2001 liegt nun eine neue Monografie vor, die "die fachliche Diskussion um Scipione Pulzone durch seine Einbindung in den ideellen Kontext der katholischen Reform belastet" (10 ) und "von einem erstaunlichen Maß an Stagnation gekennzeichnet" (11) sieht, die sie mit ersichtlichem Bemühen um Sachlichkeit und Systematik zu überwinden trachtet: Nach einer knappen Einführung wird dargeboten, was inzwischen über Pulzones Vita bekannt geworden ist, dann in drei Kapiteln das in Dezennien gegliederte Werk besprochen, es folgt der vierteilige Katalog mit 69 eigenhändigen und den Verzeichnissen der zweifelhaften, abgeschriebenen und verschollenen Gemälde sowie ein Dokumentenanhang mit zum Teil unpublizierten Quellen.

Als Geburtsjahr Pulzones möchte Dern nach Auswertung der stati d'anime 1545/46 annehmen (13); wirklich fassbar wird er aber erst mit der 1567 erfolgten Einschreibung in die Congregazione di San Luca. Seinem vermutlichen Lehrer Jacopino del Conte bleibt er auch nach diesem Schritt in die Selbstständigkeit verbunden (14, 34). 1573 wird Pulzone erstmals zum Konsul der noch jungen Accademia di San Luca gewählt, 1582 ist er ihr Principe, zugleich Regent der "Virtuosi al Pantheon" (16). Während der Pontifikate Pius' V., Gregors XIII. und Sixtus' V. weiß er sich eine exklusive Klientel zu sichern, unterhält Beziehungen zu den Colonna und hochrangigen Kardinälen wie dem in Rom residierenden Ferdinando de' Medici, reist auch mehrfach nach Florenz, um Porträtaufträge des großherzoglichen Hofes auszuführen, u. a. für die Serie der "Bellezze di Artimino" in der Medici-Villa La Ferdinanda (95 f., 172 f.). Bei dem Bildnis der Clelia Farnese, das Montaigne während seines römischen Aufenthalts 1581 im Palazzo Cesarini zu Gesicht bekam (99), kann es sich durchaus um das für Pulzone bezeugte gehandelt haben. [2] Der bevorzugte Porträtist von (Kirchen-)Fürsten und schönen Frauen sei - versichert sein früher Biograf Giovanni Baglione - selbst eine fürstliche Erscheinung gewesen und habe sich stets gut bezahlen lassen. Offenbar führte die gewissenhafte Arbeitsweise bei anhaltend guter Auftragslage auch zu Wartezeiten, sodass in den überlieferten Briefen des Malers Vertröstungen und Bitten um Aufschub den Ton angeben, denn "nel finire usò gran pacienza", wie um 1620 der Arzt und Gemäldekenner Giulio Mancini notierte.

Besonders repräsentative Porträts stattete Pulzone mit einem Spezialeffekt aus, der als seine eigene Erfindung gelten kann und von ihm zu einer Art Markenzeichen entwickelt wurde: Indem er den eine obere Bildecke ausfüllenden Vorhang als um das Bildnis selbst geschlungene, meist fransenbesetzte Seidendraperie neuinterpretiert, überführt er eine konventionelle Würdeformel in ein die eigene Tätigkeit kommentierendes Vexierspiel. "Wirkungsvoll in Trompe l'œil-Manier arrangiert, fungiert die Stoffbahn als wichtiges Requisit innerhalb der Porträtinszenierung. Durch ihren Einsatz wird die zweidimensionale Bildebene um eine weitere Dimension bereichert, sodass der Eindruck entsteht, es sei tatsächlich möglich, die figürliche Darstellung mit dem Vorhang zu bedecken", führt Dern dazu aus (36). - Nun verbürgt die täuschende Wiedergabe des Tuches nicht nur die Bildnistreue, es hat auch eine enthüllende Funktion, insofern unter ihm die (gemalte) Kante einer ungerahmten Leinwand zum Vorschein kommt. Dieser Hinweis auf den materiellen Träger der Darstellung, mit dem die ästhetische Illusion zugleich durchbrochen und affirmiert wird, dient zweifellos der Aufwertung der Malerleistung, zumal der vorgehängte Stoff zwar einen Greifbarkeit suggerierenden Schatten auf den Bildgrund wirft, die Gewänder der Porträtierten aber nicht weniger präsenzversichernd schimmern. Die von Pulzone (in deutlicher Anspielung auf den Wettstreit von Parrhasios und Zeuxis) betriebene Amplifikation der Bildgattung mochte seine Portäts bevorzugter Aufbewahrung empfehlen, und anhand von Inventareinträgen ließe sich zeigen, dass sie zuweilen aufwändig gerahmt und mit zusätzlichen Vorhängen, Bordüren, Kordeln und Quasten versehen waren. Leider lässt sich Dern auf die mit Pulzones Kunststück verbundenen Fragen nicht ein und versäumt damit, der mehrfach beteuerten Originalität des Malers ein konkreteres Profil zu geben.

Eine weitere Eigentümlichkeit, auf die Dern wiederholt und mit Nachdruck (86) hinweist, ohne sie grundsätzlicher zu erörtern, ist die oft sehr bewusste Anbringung der Künstlersignatur. Im Porträt der Christina von Lothringen von 1590 findet sie sich auf der präzisen Wiedergabe der Kroneninsigne, und zwar, lässt sich hinzufügen, an genau der Stelle, an der die Originalinschrift an die Verleihung der Großherzogswürde erinnert. In der New Yorker Beweinung Christi von 1593, die sich einst über dem Altar der Cappella della Passione im Gesù befand, säumt das "SCIPIO CAETANUS FACIEBAT" das Leintuch, mit dem Joseph von Arimathea den vom Kreuz abgenommenen Leib Christi hält und das demnach als Korporale aufgefasst werden kann. Augenfälliger (und weniger gewagt) sind die etwa an den Sarkophag der Assunta oder das Betpult der Verkündigung gehefteten cartellini, die von Dern als "Zeugnis des kreativen Selbstbewußtseins" (55, vgl. 64) abgehakt werden.

In ihren Beschreibungen hebt Dern die "einem hohen Authentizitätsgrad unterworfene Wiedergabe der Gewandung" (22) oder den "vorbildlichen Einsatz von Pulzones mimetischen Reproduktionsqualitäten" (77) hervor. Obgleich es nicht an Hinweisen auf die gesteigerte Materialsensibilität fehlt, wird diese immer wieder auf "Naturnähe" und "Detailtreue" eingegrenzt. Welcher souveränen Ökonomie diese Feinmalerei auch fähig war und wie zielgerichtet sie ihre Reizmittel einzusetzen verstand, wäre gerade an den vernachlässigten Bildern mit religiösem Sujet zu erweisen, vor allem jenen mit unergründlich dunklem Grund. Denn hier ist vieles beiseite gelassen, um die veredelten Oberflächen umso emphatischer der Betrachtung darzubieten. Chromatische Reduktion, kräftige Schatten, sorgsame Modellierung und Dämpfung der Bewegung verleihen den raumfüllenden Figuren und ihren elaborierten Hüllen statuarisches Gewicht. Gestützt wird so das stille Pathos eines gleichsam ins Ewige gedehnten Innehaltens, das auf die Überzeitlichkeit der dargestellten Glaubensmysterien verweist. Besonders wirkungsvolle Komponenten solcher Gemälde verwertete Pulzone immer wieder, doch trotz dieses überschaubaren Formenrepertoires sichern ihm seine außerordentlich durchdachten Bildfindungen eine Ausnahmestellung in der Sakralmalerei des ausgehenden 16. Jahrhunderts.

Das aktualisierte Werkverzeichnis war ein Desiderat; es nimmt gut die Hälfte des Buches ein und informiert knapp und verlässlich über die Sammlungs- bzw. Aufstellungsgeschichte der Gemälde. Die Zu- und Abschreibungen überzeugen fast durchgehend [3], wenn auch nicht immer transparent wird, welche Kriterien zur Einschätzung eines Bildes als "(un)pulzonesk" führen. Wie weit man bei der Auswertung von Inventaren in Bezug auf verlorene oder nicht identifizierte Arbeiten geht, ist sicher eine Ermessensfrage (197); aufgrund ihrer sammlungsgeschichtlichen Bedeutung hätten zumindest noch die Mater Dolorosa und das Ecce Homo aufgeführt werden dürfen, die Federico Borromeo bei Pulzone für sein "Musaeum" bestellte. [4] Der Katalog der "authentischen" Werke wäre u. a. um ein großformatiges Bildnis des Papstes Gregor XIII. in der ehemaligen Boncompagni-Villa in Frascati (mit dem obligaten Eckaufputz in blauer Seide) und einen auf Kupfer gemalten Salvator Mundi im Mantuaner Dom (auf der Weltkugel signiert und 1589 datiert) zu ergänzen.

Ausführlich diskutiert Dern (58 f. und 140-143) den Anteil Pulzones an der Ausstattung der Kapelle der Madonna della Strada in der Mutterkirche der Jesuiten, die der Ordensarchitekt Giuseppe Valeriano zwischen 1584 und 1588 in extravaganten Formen errichtet hatte. Baglione zufolge ließ sich der Padre bei der Ausführung der Leinwandbilder mit dem Marienleben von seinem Freund Pulzone unterstützen. Wie weitgehend dessen Hilfestellung war, ist bisher verschieden beurteilt worden. Dern betont zu Recht, dass invenzione und zeichnerische Anlage der Figuren samt ihren verzückten Mienen auf Valerianos Konto gehen, während es Pulzones Aufgabe war, den Gewändern durch großzügige Retuschen ihren charakteristischen Metallglanz zu verleihen und die wolkigen Faltenwürfe in seinem Sinne zu korrigieren, ohne sie völlig umzubügeln. Eine derartige Koproduktion verdient schon deshalb Beachtung, weil Valerianos grelle Farbgebung und ekstatische Gebärdensprache mit dem Temperament des Gaetano eigentlich nur schwer vereinbar sind. Der von Dern nicht erwähnte Wiederholungsfall [5] deutet auf ein spezifisches Interesse des auftraggebenden Ordens an Pulzones Nachbesserungen hin. Auf welche Weise die den Betrachter affizierenden Mittel seiner Malerei den Bedürfnissen jesuitischer Spiritualität entgegenkamen, hat Reinhold Baumstark am Beispiel der schon erwähnten Beweinung Christi anschaulich dargelegt. [6]

Derns Monografie geht dem Problem des religiösen Bildes im nachtridentinischen Rom und seinen wirkungsästhetischen Implikationen mit Vorsatz aus dem Weg. Sie gibt eine informative und klar strukturierte Übersicht über Pulzones Schaffen, für dessen Qualitäten sie wirbt, ohne es konsequent zu dem seiner Zeitgenossen ins Verhältnis zu setzen oder durch vertiefende Analysen das Unverwechselbare seiner Bildsprache kenntlich zu machen. Bei solchem Rückzug auf die Immanenz der Œuvrerevision belässt es das Resümee bei der Feststellung einer "andauernd kontinuierliche[n]" (65) bzw. "voranschreitenden Entwicklung in der Stilistik" (85) und Aussagen wie der, seine Bildnisse schlügen "einen Bogen von der Tradition zur Innovation" (87). Ungeklärt bleibt somit nicht nur, warum Pulzones Porträtstil so schnell veraltete, dass ein langjähriger Förderer wie der Kardinal Del Monte ihn schon kurz nach seinem Tod durch einen neuen Schützling übertroffen sah. [7] Auch Federico Zeris Frage nach dem Beharrungsvermögen einer so auf Andächtigkeit gestimmten Malerei - und damit nach der besonderen Zukunft, die ihr innerhalb und jenseits der Hochkunst noch beschieden war - verdiente neu gestellt zu werden.


Anmerkungen:

[1] Federico Zeri: Pittura e controriforma. L'arte senza tempo di Scipione di Gaeta, Turin 1957.

[2] Problematisch erscheint allerdings die Aufnahme des mehrfach und mit guten Gründen Jacopo Zucchi zugeschriebenen Clelia-Porträts im Palazzo Barberini (Inv.-Nr. 2566) in den Katalog Pulzones (26 f. und Nr. 9, 98-100). Gegen dessen Autorschaft sprechen neben dem massiven Einsatz weißer Lichter und der insgesamt kühleren Farbigkeit vor allem die kalligrafisch ausgeführten Figürchen am Kollier der Dargestellten.

[3] Siehe hierzu Anm. 2.

[4] Pamela M. Jones: Federico Borromeo and the Ambrosiana, Cambridge / Mass. 1993, 125 und Kat.-Nr. I A 86-87.

[5] Vincenzo Abbate: "Giuseppe Valeriano e la prima decorazione del Gesù di Palermo", in: Clara Gelao (Hg.): Studi in onore di Michele d'Elia, Matera 1996, 309-321, bes. 311-314 mit Abb. 2-4. Evidenz gibt die Farbabbildung in: Ders. (Hg.): Porto di mare. 1570 - 1670. Pittori e pittura a Palermo tra memoria e recupero, Neapel 1999, Nr. 5, 171-173.

[6] Reinhold Baumstark (Hg.): Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, München 1997, Nr. 137, 458-461. Einer umfassenderen Würdigung hätte dieser prägnante Katalogbeitrag manchen Wink geben können.

[7] Zygmunt Waźbiński: Il cardinale Francesco Maria Del Monte (1549-1626), Florenz 1994, I, 95.

Heiko Damm