Simone Schinz: Sitte, Moral, Anstand und das Phänomen Öffentliche Meinung im England des 18. Jahrhunderts (= Publizistik im Gardez!; Bd. 5), Remscheid: Gardez! Verlag 2004, 432 S., ISBN 978-3-89796-143-2, EUR 34,95
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Bei der Erforschung des Begriffs und des Phänomens "Öffentlichkeit" lassen sich zwei Hauptströmungen unterscheiden: Das "Elitenkonzept" und das "sozialpsychologische Integrationskonzept". Das Elitenkonzept ist maßgeblich von Jürgen Habermas und Reinhart Koselleck geprägt worden. Demnach gab es während des Spätmittelalters und der meisten Zeit der Frühen Neuzeit vor allem eine "repräsentative Öffentlichkeit", die der Fürst und sein Hof vor einem passiven Publikum inszenierten. Seit dem Westfälischen Frieden (Koselleck) bzw. dem Ende des 17. Jahrhunderts (Habermas) waren dann zunächst religiöse Individualrechte erkennbar, bevor sich eine räsonierende "bürgerliche Öffentlichkeit" herausbildete. Diese bestand aus einer wachsenden Anzahl von Bildungsbürgern, die über Belange von Staat und Gesellschaft einen freien Diskurs führen und dergestalt rational und gestaltend auf das Gemeinwohl einwirken wollten. Damit ging einher, dass sie den absolutistischen Fürstenstaat infrage stellten. Das Konzept ist politisch ausgerichtet und normativ dominiert: Es geht darum, wie der Staat sein sollte, wenn er als gut bezeichnet werden wollte.
Das sozialpsychologische Integrationskonzept geht von einem anderen Öffentlichkeitsbegriff aus. Hier soll "öffentlich" bedeuten, dass etwas "vor aller Augen" geschieht ("coram publico"). Nicht ein normativer Horizont, sondern eine beobachtbare Wirklichkeit steht im Vordergrund, es handelt sich damit um einen Bewusstseinszustand. Zweck dieser Öffentlichkeit ist die soziale Kontrolle. Die sozialpsychologische Öffentlichkeit ist nicht sozial beschränkt, sondern schließt alle Mitglieder einer Gesellschaft mit ein, denn jeder ist Teil der Öffentlichkeit, wenn er aus der privaten Sphäre hinaustritt. Diese Öffentlichkeit fällt moralische Urteile, denen sich nicht nur die Regierung, sondern alle Gesellschaftsmitglieder unterwerfen müssen (als Einzelne und als Mitglieder von Großorganisationen). Dieses Konzept wurde von der Mainzer Publizistin und Allensbacher Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann entworfen, die auch die Dissertation von Simone Schinz anregte und betreute.
Schinz wendet das sozialpsychologische Öffentlichkeitskonzept auf die englische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts an. England darf für diese Zeit hinsichtlich der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und pressegeschichtlichen Entwicklung als das fortschrittlichste Land Europas angesehen werden. Entsprechend der seit 1695 bestehenden weit gehenden Pressefreiheit entstand ein sehr ausgedehnter und ausdifferenzierter Markt für Druckprodukte ephemerer wie periodischer Erscheinungsweise, aus der Schinz quellenmäßig schöpfen kann.
Im Mittelpunkt der Auswertung stehen allerdings nicht die zahlreichen historisch-politischen oder moralischen Wochenschriften, die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert entstanden waren. Vielmehr sucht Schinz ihre Argumente in politischen Aussagen verantwortlicher Politiker sowie in Traktaten staats- und gesellschaftsphilosophischer Schriftsteller, die die Rolle der Intellektuellen in der frühmodernen englischen Gesellschaft einnahmen. Aus den Mosaiksteinchen der Einzelaussagen formt Schinz das Bild einer Gesellschaft, die nach der Glorious Revolution nicht einfach durch den Dualismus Krone - Parlament konstituiert war. Vielmehr fand, so Schinz, eine intensive Einbeziehung der gesamten lesefähigen Bevölkerung in alle öffentlichen Debatten statt, vermittelt durch eine beträchtliche Zahl von professionellen oder nebenberuflichen Schriftstellern. Das öffentliche Räsonnement über Themen von allgemeinem Belang wird dabei vorausgesetzt - es ist bereits eine Grundannahme des sozialpsychologischen Integrationskonzepts, dass Debatten über das allgemeine Wohl als geschichtsbegleitende Tatsachen von der Antike bis heute angenommen werden. Die Frage nach dem Beginn der Öffentlichkeit ist damit bereits beantwortet: Sie war schon immer da.
Auf England bezogen bedeutet dies, dass die Ancient Constitution als Konstruktion einer guten Ordnung die Bezugsgröße für alle Gemeinwohldebatten darstellt (140-165). Der "gute Herrscher" ist derjenige, der die Zuneigung seiner Untertanen besitzt. Falls er sie verliert, hört er auf, ein guter Herrscher zu sein. Dies wird argumentativ oft mit der (idealisierten) Herrschaft Elisabeths I. verknüpft. Der Herrscher ist auch gehalten, bei erkennbar artikuliertem Widerstreben seiner Untertanen anhängige Regierungsprojekte fallen zu lassen (gegebenenfalls das damit identifizierte Regierungspersonal auch) (165-191). Im Folgenden nennt Schinz einige Beispiele dafür, dass sich zu Einzelfragen eine Öffentliche Meinung abweichend von der Regierungsmeinung Gehör verschaffte und damit Revisionen erreichte. Üblicherweise wird im parlamentarischen System die regierungsabweichende Öffentliche Meinung von der Opposition aufgegriffen und damit nicht nur ihre Durchsetzung, sondern auch ein Regierungswechsel angestrebt (192-253).
An dieser Stelle fügt Schinz ein Kapitel über die englische Presse ein. Die Analyse wird dabei sehr stark auf den Meinungsjournalismus ausgerichtet, der kritischen Ansichten selbst dann ein Forum bot, wenn sie noch Mindermeinungen im Sinne des psychologischen Integrationsmodells waren. Auf die alltägliche neutrale Berichterstattung, auf die Serialität von Einzelnachrichten ohne Kommentierung als Grundlage des allgemeinen und schnellen Wissenstransfers geht Schinz hingegen nur am Rande ein - insofern ist die Dissertation nicht als mediengeschichtliche Studie konzipiert (254-280). Die Arbeit schließt mit einer eingehenden Analyse der so genannten "Moral-Sense"-Philosophie, wie sie von Denkern wie dem Earl of Shaftesbury, Francis Hutcheson, David Hume, Adam Ferguson und Adam Smith getragen wurde. Dieses Kapitel fragt nach der sozialen Natur des Menschen, nach der Psychologie der Moral, nach den Inhalten von Moral und Öffentlicher Meinung sowie nach eventuellen Reformmöglichkeiten moralischen Handelns. Als ironischen Gegenentwurf stellt Schinz die "Bienenfabel" des Arztes Bernard de Mandeville vor, das vermeintliche hohe Lied auf die Unmoral als Grundlage menschlichen Zusammenlebens (281-319).
Allen verwendeten Quellen ist gemeinsam, dass Öffentliche Meinung im England des 18. Jahrhunderts als Element der Sozialkontrolle wahrgenommen wurde. Dies wurde nicht als Unterdrückungserfahrung thematisiert, sondern durch die Bühnen-Metapher: Alles öffentliche Handeln spielte vor einem Publikum, das zufrieden gestellt werden wollte und durchaus kritisch, sogar feindselig reagieren konnte, wenn die Schauspieler die Erwartungen nicht erfüllten (321). Die Bühne gab es nicht nur für den König oder die Parlamentarier, sondern in sozialer Hinsicht für jeden Einzelnen vor den Augen seiner Zeitgenossen. Grundlage moralischer Bewertung war dabei nicht immer die solide Sachinformation, sondern oft genug das Gerücht oder die gezielt lancierte üble Nachrede. Dabei entstand Öffentliche Meinung auf zweierlei Weise: Zum einen durch Meinungsakkumulation von unten, ausgedrückt durch getrennte Caféhäuser und Zeitungen der unterschiedlichen Lager, zum anderen durch gezielte Maßnahmen der politischen Interessenten von oben, durch Abzeichen, Parolen, Organisation von Demonstrationen oder das Ausstreuen von Informationen. Eine einheitliche aufgeklärte Öffentlichkeit, so betont Schinz, fehlte dabei, denn eher lassen sich getrennte, konkurrierende Öffentlichkeiten erkennen, die den persönlichen Dialog vermieden und stattdessen ihre konkurrierenden Deutungen medial vermittelten (323 f.).
Die Dissertation von Simone Schinz weist die Gültigkeit des sozialpsychologischen Integrationsmodells für die englische Gesellschaft im frühen 18. Jahrhundert auf überzeugende Weise nach. Dabei ist die Quellenauswahl begründet, und die Beispiele für die Einsicht der Zeitgenossen in die moralische Macht der Öffentlichkeit sind überzeugend ausgewählt und präsentiert. Verzichtbar wäre der Anhang mit dem handbuchartigen Überblick über die englische Geschichte der späten Stuartzeit und frühen Hannoveranerherrschaft gewesen (412-423); dafür fehlt dem Buch ein Register.
Johannes Arndt