Pertti Ahonen: After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945-1990, Oxford: Oxford University Press 2003, VIII + 313 S., ISBN 978-0-19-925989-2, GBP 55,00
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Manche mögen es kaum glauben: Willy Brandts markante Stimme schallte durch die Lautsprecheranlage auf dem Schlesiertreffen in Hannover im Juni 1961. [1] Unter einer Abbildung des Schlesierschildes, das sich an den Schlesischen Abstimmungsadler anlehnt, hielt der Regierende Bürgermeister von Berlin eine leidenschaftliche Rede. Ein Foto von diesem Auftritt hat Pertti Ahonen für das Cover seines Buches, das eine erweiterte Fassung seiner 1999 eingereichten Dissertation darstellt, mit Bedacht ausgewählt. Denn über die Analyse dieses Bildes gelangt man an den Kern von Ahonens Anliegen.
Während das Coverfoto einen Hinweis auf die Intention des Buches gibt, verwirrt der Untertitel des Werks, da er in eine falsche Richtung führt: Es geht hier nämlich nicht um eine Diplomatiegeschichte der bundesrepublikanischen Ostpolitik unter besonderer Berücksichtigung des Vertriebenenproblems. Im Zentrum des Buches steht viel mehr das diskursive Verhältnis zwischen den Bundesregierungen respektive den politischen Parteien und den Vertriebenenorganisationen hinsichtlich der westdeutschen Außenpolitik.
Willy Brandt und die Vertriebenenverbände? Die Erinnerung an die Phase der neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition ab 1969 weckt zunächst das Bild einer extrem konflikthaften Beziehung: so weit, so bekannt. Gerade deshalb ist die Auswahl der Fotografie aus dem Jahr 1961 Gewinn bringend, da sie einen Moment beschreibt, der diese Mainstream-Erinnerung aufzubrechen vermag. Das Anliegen des Autors ist es, dem Einfluss der Vertriebenen beziehungsweise ihrer Verbände auf die Ostpolitik der Bundesrepublik nachzuspüren. Ahonen geht dabei chronologisch vor: Einer Erläuterung der Programme und Strategien der Vertriebenenorganisationen folgen Analysen der frühen Nachkriegspolitik Adenauers, der Etablierung des von ihm mitgestalteten Musters der Vertriebenenpolitik in den Folgejahren und der Ausgestaltung beziehungsweise Ausdifferenzierung der so genannten Neuen Ostpolitik. Das Schlusskapitel gibt einen Ausblick bis zur Vereinigung Deutschlands 1990.
Brandts Auftritt von 1961 fällt in eine Periode, in der die SPD mit dem Bad Godesberger Programm von 1959 eine wichtige strategisch-politische Neujustierung vollzogen hatte. Neben der Abkehr von marxistischen Leitvorstellungen beinhaltete der Kurswechsel auch eine veränderte außenpolitische Positionierung, die nun u. a. ein Bekenntnis zur (west-)europäischen Integrationspolitik Adenauers einschloss. Ein anderes - damit eng verbundenes - öffentliches Bekenntnis war jedoch ebenso auffällig: die intensivierte Hinwendung zu den Vertriebenen beziehungsweise die verbale Unterstützung der Ziele ihrer Lobby. Ahonen gelingt es, anhand einer hervorragenden Quellenbasis das Wechselspiel der bundesdeutschen Vertriebenenpolitik - immer verstanden als Politik von Vertriebenen und Politik für Vertriebene - genau zu beleuchten.
Die Annäherungsversuche der Sozialdemokratie an das politisch organisierte Vertriebenenmilieu waren zwar keineswegs neu. Neu war jedoch die selbstkritische Erkenntnis, dass das bisherige Bemühen um diese Gruppierung besonders im Vergleich mit den Unionsparteien nicht von Erfolg gekrönt war. An dieser Stelle scheint eines der zentralen Motive auf, die Ahonen für die langanhaltende Unterstützung der außenpolitischen Forderungen der Verbände quer durch die Parteienlandschaft ausmacht: das Werben um die Millionenzahl vertriebener Wähler. Ahonens Verdienst in diesem Zusammenhang ist es, das stereotyp benutzte Argument vieler Akteure im Vertriebenendiskurs zu verifizieren: Nicht nur, dass die verschiedenen Parteien intern ganz offen dieses Thema verhandelten, auch die Verbandsfunktionäre waren sich der Tatsache bewusst, dass hier ihre entscheidende Trumpfkarte lag, und spielten sie selbstbewusst aus. Und so muss man die Rede von Willy Brandt, der 1961 nicht nur als Regierender Bürgermeister von Berlin, sondern als Kanzlerkandidat der SPD auftrat, auch als Wahlkampfereignis verstehen.
Brandt bewegte sich zu diesem Zeitpunkt auf der Linie des von der SPD eingeschlagenen Kurses gegenüber den Vertriebenenverbänden: Der im Zuge des Integrationsprozesses ausgelöste Niedergang der Vertriebenenpartei BHE entwickelte sich zu einem Wettlauf der großen Parteien um die Besetzung von Themen und Positionen im Diskurs über Vertreibung. Im Januar 1961 hatten sich Vertreter des SPD-Präsidiums und der Sudetendeutschen Landsmannschaft nach einer gemeinsamen Konferenz auf ein Papier geeinigt, das ebenso wie das im April 1961 verabschiedete potenzielle Regierungsprogramm der SPD explizit die zentralen Forderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft nach Durchsetzung des Heimat- und Selbstbestimmungsrechts der Vertriebenen unterstützte.
Das taten fast alle Parteien. Ähnlich lautende Vereinbarungen gab es in dieser Zeit beispielsweise auch zwischen der SL und der CSU sowie der FDP, von der ebenfalls 1961 urkundlich bestätigten Übernahme der Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen ganz zu schweigen. Ahonen skizziert in diesem Zusammenhang eine Geschichte der doppelten Zungen im Verhältnis der Bundesregierungen und der Vertriebenenorganisationen: Während in der Öffentlichkeit die verbale Unterstützung postuliert wurde, machte man in internen Besprechungen keinen Hehl daraus, dass man die propagierten Forderungen für unrealistisch und zum Teil sogar außenpolitisch für kontraproduktiv hielt; daher wurden die Vertreter der Verbände gelegentlich hinter vorgehaltener Hand als unbelehrbare Nationalisten verurteilt. Wieso dann die Förderung der Anliegen der Verbände? Weil sie bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich ein grundsätzlicher Wechsel in der bundesdeutschen Ostpolitik abzeichnete - nämlich in der Ära der Großen Koalition -, mit ihren "heimatpolitischen" Ansätzen ein verlässlicher Partner in der anti-kommunistischen, westeuropäisch orientierten Politik waren.
Eines von Ahonens Ergebnissen ist, dass beide Partner einen Preis für dieses Übereinkommen bezahlt haben. Die Bundesregierungen bis zur Großen Koalition haben zunächst nicht gemerkt, wie sie mit ihrer anscheinend selbstverständlichen Förderung der Anliegen der Vertriebenenverbände im Laufe der Zeit zu Gefangenen dieser selbst gewählten Strategie wurden, als sich die internationalen Koordinaten in Richtung einer neuen Verbindung zu den Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs verschoben hatten, was die Bundesrepublik innen- und außenpolitisch in ein Dilemma brachte. Auf der anderen Seite haben die Verbände nicht wirklich gemerkt, wie sie - schon zu Adenauers Zeiten - instrumentalisiert worden sind, denn bei aller Einbindung ihrer außenpolitischen Vorstellungen in den politischen Willensbildungsprozess sind sie im Wesentlichen nicht an die Schaltstellen der Macht vorgedrungen - trotz eines eigenen Bundesvertriebenenministeriums.
Dass dieses Verhältnis der Vertriebenenverbände zur Bundespolitik keine dauerhafte Rückversicherung darstellte, lässt sich an der Politik Brandts illustrieren, denn der Kanzler von 1969 war nicht mehr der Kanzlerkandidat aus dem Jahr 1961. Seine Suche nach flexiblen Antworten auf eine veränderte weltpolitische Lage wollten oder konnten die Verbände nicht mitmachen. Mit ihrer Beharrungsstrategie manövrierten sie sich und ihre Politik in ein gesellschaftliches Nischendasein, in dem sie auch während der Ära Kohl wirkten.
Ahonen schildert diese Entwicklung wohltuend sachlich. Er entzieht sich der Gefahr einer polarisierenden Darstellung durch die abgewogene Auswahl seiner Quellen und den kühlen Blick von Außen. Dass ein politikgeschichtliches Überblickswerk zu einem Zeitraum von knapp fünfzig Jahren jüngster Geschichte vieles außer Acht lassen muss, ist klar. Beispielsweise bleibt die Politik besonders der verschiedenen Akteure auf Seiten der Vertriebenen recht undifferenziert, da der Autor die biografiegeschichtliche Komponente weitgehend ausblendet. Aber Ahones Buch war überfällig, denn die Forschung zur Geschichte des Vertriebenendiskurses in Deutschland befindet sich noch am Anfang, wie nicht zuletzt die Debatte um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" schmerzlich vor Augen geführt hat. Ahonen hat die zentralen Aspekte eines Elitendiskurses analysiert und dankenswerterweise Ordnung in das Gemisch aus Urteilen und Vorurteilen gebracht. Jetzt können die notwendigen Sonden in die verschiedenen Diskurskanäle gelegt werden.
Anmerkung:
[1] Diese Rezension wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Zeitschrift "Bohemia"; sie erscheint auch in Bohemia 45 (2004), Heft 2.
K. Erik Franzen