Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann (= édition discours; Bd. 30), Konstanz: UVK 2003, 736 S., ISBN 978-3-89669-991-6, EUR 49,00
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Dass der Anspruch dieses Buches nicht gerade ein bescheidener ist, davon kündet bereits der vollmundige Titel: Unter unverkennbarer Bezugnahme auf niemand Unbedeutenderen als einen der ganz Großen - Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904 - versprechen der französische Soziologe und Bourdieuschüler Luc Boltanski und die Ökonomin Ève Chiapello eine Neuinterpretation bzw. Fortsetzung jenes Meilensteins der soziologischen Literatur. Und das gelingt ihnen auch.
Die zentrale These, die die Autoren auf fast 600 Text-Seiten entfalten, beleuchten und diskutieren, ist die, dass in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts der Kapitalismus sich neu erfunden, einen "neuen Geist" entwickelt habe und damit in eine dritte Phase seines Bestehens eingetreten sei. Grundlegend ist dabei ein Verständnis des Kapitalismus als amoralischer Prozess der unbeschränkten Anhäufung von Kapital, der gleichzeitig jedoch aufgrund dieser Amoralität permanent darauf angewiesen ist, als soziales Ordnungssystem zu fungieren. Nur nämlich indem er normativ überzeuge, sich rechtfertige und legitimiere, bringe der Kapitalismus Menschen dazu, kontinuierlich am Akkumulationsprozess teilzunehmen und jenen somit zu erhalten.
Im historischen Überblick, der den drei Hauptteilen des Buches vorangestellt ist, unterscheiden Boltanski und Chiapello dabei drei Phasen: erstens die des "Familienkapitalismus", die ihren Ausgang im 19. Jahrhundert genommen habe; zweitens die des "Konzernkapitalismus", der sich in Frankreich seit dem Beginn der 1930er-Jahre zunehmend durchgesetzt habe, und drittens die des seit der zweiten Hälfte der 60er-Jahre sich durchsetzenden "Netzwerkkapitalismus", die bis in die Gegenwart reicht. Diese Phasen - so die Autoren - zeichnen sich dabei jeweils durch ein eigenes spezifisches "Überzeugungsmodell" mit verschiedenen Referenzen und Orientierungen aus. Zur systematischen Erfassung dieser verschiedenen Rechtfertigungslogiken haben Boltanski und Chiapello ein analytisches Modell entwickelt: Sie unterscheiden dabei zwischen sechs Formen möglicher Legitimationsreferenzen, so genannter "Poleis", im französischen Original "Cités", also so etwas wie "Gemeinwesen" im Sinne idealtypischer sozialer Leitbilder: 1. die religiös-spirituelle Polis, 2. die häuslich-familiäre Polis, 3. die Polis der Ehre, 4. die bürgerlich-politische Polis, 5. die marktwirtschaftliche Polis. 6. die industrielle Polis. Anhand dieser Poleis lassen sich in jeweils spezifischer Kombination die Überzeugungsmodelle sowohl des Familien- wie auch des Konzernkapitalismus beschreiben: So basiere ersterer auf einem Kompromiss zwischen der familiären und der marktwirtschaftlichen Polis, während Letzterer maßgeblich auf Rechtfertigungen der industriellen und der bürgerweltlichen Polis rekurriere.
Boltanski und Chiapello geht es jedoch vorrangig nicht um die historische Dimension dieses Phasenmodells in Gänze. Was sie vor allem interessiert, ist der Übergang vom Konzern- zum Netzwerkkapitalismus, also der Wandel von der zweiten zur dritten Phase, sowie diese letzte Phase an sich. Dieser Einschnitt nämlich markiere den Beginn des "Neuen Geistes" insofern, als sich in diesem Zusammenhang ein paradigmatischer Wandel vollzogen habe, aus dem ein neues kapitalistisches "Überzeugungsmodell", eine neue Polis hervorgegangen sei. So reichten, um den "neuen Geist" zu erfassen, die sechs herkömmlichen Rechtfertigungslogiken nicht mehr aus. Wie Boltanski und Chiapello aufzeigen, bedarf es dazu vielmehr einer siebten, der so genannten "projektbasierten Polis". Was es nun damit auf sich hat, d. h. welche spezifischen Orientierungen dieser neuen Polis zu Eigen sind, veranschaulichen sie anhand der Analyse ihrer Genese und Durchsetzung am französischen Beispiel. Diesem Anliegen ist der Großteil des Buches gewidmet.
Im ersten seiner drei Teile geht es um die Herausbildung der projektbasierten Polis als neues kapitalistisches Rechtfertigungsmodell auf der Diskursebene. Dabei liegen als empirische Anbindung zwei Korpora von Managementtexten (60er- und erste Hälfte der 90er-Jahre, jeweils ca. 60 Texte) zu Grunde. Im computergestützten, qualitativen Vergleich der beiden zeigen Boltanski und Chiapello die Zunahme und Durchsetzung des Netzwerkparadigmas anhand der damit verbundenen Verschiebungen im kapitalistischen Normensystem auf. Im zweiten Teil des Buches nehmen sie die parallel zu diesen diskursiven Veränderungen sich wandelnde kapitalistische soziale Praxis zwischen 1968 und dem Beginn der 80er-Jahre in Frankreich in den Blick. Hier zeigen sie nicht nur eine grundlegende Transformation der Arbeitswelt hinsichtlich ihrer betrieblichen Organisation auf; ebenso geht es um den damit einhergehenden Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und die Auswirkungen auf gesamtgesellschaftliche Ordnungen im Zeichen des "neuen Geistes".
Die vorrangig normativ basierte Auffassung des Kapitalismus als soziales Ordnungssystem ermöglicht es damit, einen ganz bestimmten Faktor seiner Veränderungsdynamik nicht nur zu erfassen, sondern auch in seiner spezifischen Wechselwirkung mit dem kapitalistischen System zu beschreiben: die Kritik. Alle normativen Rechtfertigungssysteme - so die zentrale Grundannahme der Autoren - seien nämlich anfällig für Kritik, d. h. gegenüber Angriffen auf ihre jeweiligen Legitimationskonstruktionen.
Um dies aufzuzeigen, unterscheiden Boltanski und Chiapello zwischen zwei Formen der Kritik: zum einen der Sozialkritik, deren Träger die Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung seien, und zum anderen der so genannten Künstlerkritik, als deren Träger sie Intellektuelle und Künstler identifizieren. Während die Sozialkritik den Kapitalismus als Quelle von Armut und Ungleichheit, von Ungerechtigkeit, egoistischer Bereicherung und Ausbeutung thematisiere, richte die Künstlerkritik ihr Augenmerk vor allem auf Normierungstendenzen, berechnende Kalkulation und kühle Bilanzierung, die die Freiheit der persönlichen Entfaltung, der Kreativität, Authentizität, Einzigartigkeit und Vielfalt beschneide und verhindere.
1968 sei diese Kritik gebündelt und so lautstark geäußert worden, dass ein Ignorieren unmöglich geworden war. Durch Neustrukturierungen der Arbeitswelt gelang es zwar während der 70er- und 80er-Jahre, - nicht zuletzt eben aufgrund einer erfolgreichen Verdrängung der Gewerkschaften - der Sozialkritik den Wind aus den Segeln zu nehmen; nicht so jedoch der Künstlerkritik. Im Gegenteil, ihre Aneignung durch den Kapitalismus war nicht selten sogar Argument und Maßnahme zur Abwehr der Sozialkritik: Indem vermittels der Orientierung am eigenverantwortlichen, emanzipierten, selbst zu verwirklichenden, autonomen Individuum Arbeitsplatzstrukturen, Unternehmensorganisationen, betriebliche Sozialbeziehungen, damit grundlegende Bestandteile des französischen Produktionssystems neu ausgerichtet wurden, veränderte sich die gesamte Ordnung des Kapitalismus. Der sich so ausbildende "neue Geist", der sich in erster Linie zunächst an Führungskräfte richtete und damit maßgeblich von ihnen getragen wurde, war und ist somit gekennzeichnet von der Orientierung an Werten wie Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung. In einer Welt solchen Geistes gibt es nur noch wenige fixe Ordnungen und Strukturen; diese liegen vielmehr jeweils in der Verantwortung der beteiligten Akteure, die unter den gegebenen Bedingungen entscheiden und gestalten müssen. Die allein positive Konnotation dieser Orientierungsbegriffe, die maßgeblich daraus resultiert, dass sie eben nicht dem Kapitalismus selbst, sondern seiner Kritik entstammen, und die bis in die Gegenwart anhält, war und ist Ursache dafür, dass die Kritiker nicht nur verstummten, sondern sich an dieser Neuformierung auch aktiv beteiligten.
Die Künstlerkritik war somit, wie Boltanski und Chiapello aufzeigen, einer der wichtigsten Motoren für die Veränderungsdynamik des Kapitalismus, mit der sich ein konnexionistisches Überzeugungsmodell durchsetzte. In dessen Mittelpunkt stand und steht das zur Autonomie verdammte Individuum, das, um sich zu behaupten, in der Lage sein muss, die umgebende Welt und in letzter Konsequenz auch sich selbst als Netz und Projekt zu erfahren und zu gestalten. Rechtfertigungslogik dieser neuen und bis heute aktuellen Denkweise ist die projektbasierte Polis, die erkennbar und verständlich zu machen, das zentrale Anliegen der Autoren ist.
Darin also, dass Boltanski und Chiapello nicht nur kapitalistische Legitimationskonstrukte "entlarven", sondern gleichzeitig auch aufzeigen, dass diese in ihrer sozialpraktischen Funktionsweise untrennbar verbunden sind mit ihrer Kritik, darin besteht ihr größtes Verdienst: Indem sie so erstmals systematisch das Verhältnis zwischen dem Kapitalismus und seinen Kritikern ausloten, entwickeln sie ein erweitertes, dynamisches Kapitalismusmodell. Dieses ist als Ausgangspunkt für theoretisch fundierte Analysen besonders geeignet, um nicht nur grundlegende Veränderungen in und von Unternehmen seit den 70er-Jahren zu erklären (vom "zentralisierten, integrierten Großkonzern" zum "schlanken und atmenden Unternehmen"), sondern gleichzeitig auch damit einhergehende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, wie etwa das Wiedererstarken kapitalistischer Kräfte während der 80er-Jahre unter gleichzeitig zunehmender Orientierungs- und Zahnlosigkeit ihrer (ehemaligen) Kritiker. Populäre deutsche Beispiele sind hier etwa die Karrieren von Joschka Fischer und Otto Schily - vom "Steinewerfer" und "RAF-Anwalt" zu exponierten Regierungsmitgliedern, die u. a. ein Programm zur Arbeitsmarktreform mittragen, das nicht nur von einem Akteur entworfen wurde, der aus dem unternehmerischen Kontext stammt - einem "Personalexperten" -, sondern auch im politischen Kontext weiterhin dessen Namen trägt: "Hartz IV".
Dass Boltanski und Chiapello ihr Modell am französischen Beispiel entwickelt haben, steht dessen Verwendung im deutschen Kontext somit keineswegs entgegen, zumal überdies die Managementtexte, die ihrer Analyse zu Grunde liegen, zum Teil international rezipiert wurden - so etwa Publikationen von Jean-Jaques Servan-Schreiber, Peter Drucker, Tom Peters, Robert Waterman oder auch die von Robert Blake / Jane Mouton. Zu prüfen wäre daher, ob ihr Modell nicht gar einen umfassenden Ansatz zur Analyse grundlegender Wandlungsprozesse liberal-demokratischer Gesellschaften seit den 70er-Jahren bietet, die insbesondere von einer verdichteten Wechselwirkung zwischen unternehmerischen bzw. kapitalistischen und gesamtgesellschaftlichen Orientierungskonstrukten gekennzeichnet waren bzw. sind.
Boltanski und Chiapello geben sich mit einem solchen wissenschaftlich-theoretischen Anliegen jedoch noch nicht zufrieden. Sie gehen noch einen Schritt weiter - "Soziologie gegen Fatalismus" lautet ihre Devise: Indem sie im dritten Teil des Buchs ihr Augenmerk dezidiert auf die Rolle der Kritik im projektbasierten Kapitalismus richten und dabei insbesondere nach Ansätzen für eine Neupositionierung fragen, auf deren Darlegung hier mangels Platz allerdings verzichtet wird, schmieden sie auch politisch-praktisch - wie Bruno Latour es formuliert hat - "Waffen, um die Linke zu erneuern", damit diese aufhöre, sich meistbietend zu verkaufen oder gegen einen Feind zu kämpfen, der schon lange verschwunden ist.
Insgesamt ist damit Boltanskis und Chiapellos Anliegen im Zeichen des "neuen Geists" in der Tat besonders ambitioniert und überzeugt obendrein in der Durchführung. Dass man die 600 Seiten allerdings verschlünge wie einen dicken Roman - so ebenfalls Latour -, ist wohl eher zu verstehen als kollegial solidarische Wertschätzung und Werbung; ein sozialwissenschaftlicher Text, wenn auch tatsächlich gut lesbar, bleibt es allemal und dazu ein wirklich umfangreicher. Wer sich daher erst mal überblicksartig informieren will, gewinnt viel mit der Lektüre des zusammenfassenden Aufsatzes von Luc Boltanski und Ève Chiapello. [1]
Anmerkung:
[1] Luc Boltanski / Ève Chiapello: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, in: Marion von Osten (Hg.): Norm der Abweichung, Zürich 2003, 57-80; zuerst erschienen in: Berliner Journal für Soziologie 4, 2002.
Ruth Rosenberger