Rezension über:

Helmut Loos / Stefan Keym (Hgg.): Nationale Musik im 20. Jahrhundert. Kompositorische und soziokulturelle Aspekte der Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa, Leipzig: Gudrun Schröder Verlag 2004, VIII + 572 S., ISBN 978-3-926196-44-6, EUR 50,00
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Rüdiger Ritter: Wem gehört die Musik? Warschau und Wilna im Widerstreit nationaler und städtischer Musikkulturen vor 1939 (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa; Bd. 19), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 226 S., ISBN 978-3-515-08346-1, EUR 36,00
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Rezension von:
Philipp Ther
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Ther: Musik und Nation (Rezension), in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/8821.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Musik und Nation

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Die reiche Musikkultur Ostmitteleuropas erfährt in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit. Erfreulicherweise werden davon auch zunehmend die Nachbardisziplinen der Musikwissenschaft, insbesondere die Geschichte, erfasst. Ein Schwerpunkt der Forschung hat sich in Leipzig herausgebildet, zum einen an der Universität bzw. dem musikwissenschaftlichen Lehrstuhl von Helmut Loos, zum anderen, wenn auch an ein zeitlich begrenztes Projekt gebunden, am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO).

Die hier zu besprechenden Bücher sind in diesem Leipziger Kontext entstanden und befassen sich mit einem der zentralen Themenkomplexe der Musik- und Kulturgeschichte des mittleren und östlichen Europa, dem Zusammenhang zwischen Musik und Nation. Beide Publikationen analysieren eingehend, wie die Nationalbewegungen der Region versuchten, Musik national zu vereinnahmen. Diesen Prozess kann man auf zwei Ebenen nachvollziehen, zum einen auf einer institutionellen, indem Musikinstitutionen mit einer nationalistischen Zielsetzung gegründet oder bereits bestehende Opernhäuser, Konzertsäle, Konservatorien und andere Ausbildungseinrichtungen entsprechenden Aufgaben untergeordnet wurden. Zum anderen gab es den Versuch, Komponisten, Schulen und einzelne Werke national zu codieren. Auf diesem Wege wurde beispielsweise "Halka" zur polnischen Nationaloper, Moniuszko zum Vater der polnischen Oper (obwohl dieser Ehrentitel eher dem gebürtigen Schlesier Josef Elsner gebühren würde), und sämtliche größere Bühnen Polens sahen sich im 19. Jahrhundert als Refugium und Sprachrohr der Nation. Beide Bücher zeigen eindrucksvoll, dass es sich bei der Nationalisierung von Musik um einen universellen Prozess handelt, der nicht nur Polen, sondern alle Länder und Nationen Ostmitteleuropas unter Einschluss Deutschlands erfasste. Das Thema bietet sich somit für einen Vergleich sehr gut an, der in Rüdiger Ritters Monografie systematisch betrieben wird und sich in dem von Helmut Loos und Stefan Keym herausgegebenen Sammelband aus der Fülle der Fallstudien ergibt.

Während die Musikwissenschaft bis 1989 in Deutschland und Ostmitteleuropa meist affirmativ auf die jeweilige nationale Tradition zurückblickte und somit ex post das Paradigma des 19. Jahrhunderts bestätigte, ist inzwischen der Dekonstruktivismus ein universeller Trend geworden. Die Dekonstruktion von Nationalstilen in der Musik eröffnet die Möglichkeit zu einer Differenzierung zwischen verschiedenen Strömungen, Schulen und Komponisten in den jeweiligen Ländern, zwischen Folklorismus und musikalischem Nationalismus, den diversen Einflüssen der musikalischen Moderne und der neuen Musik. Man kann nur hoffen, dass dieses facettenreiche Bild ostmitteleuropäischer Musik in den beiden besprochenen Büchern die Außenwahrnehmung in Westeuropa verändern wird. In Deutschland wird z. B. tschechische, polnische, ungarische und russische Musik häufig als spezifisch nationale Musik wahrgenommen, was jedoch den Blick auf deren ästhetische Diversität verstellt und auf einer unhaltbaren Gegenüberstellung zwischen einer vermeintlich universellen Qualität der deutschen gegenüber einer spezifisch nationalen Ausrichtung der ostmittel- und osteuropäischen Musik beruht.

Rüdiger Ritter betont in seinem Buch die Bedeutung des städtischen Kontexts für die Konzertmusik und die Oper des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er beginnt seinen Vergleich über die Musikkultur von Warschau und Wilna daher programmatisch mit einem Kapitel über "Stadtmusik" und die musikalisch interessierte Öffentlichkeit der beiden Städte. Ritter bietet einen detaillierten Überblick über Musikinstitutionen von den Salons bis zu den Konservatorien und unterstreicht deren Bedeutung für die städtische Identitätsbildung.

Der Vergleich ergibt für Warschau, dass dort die Nationalisierung des Musiklebens sehr weit voranschritt, und zwar sowohl, was die Ebene der Institutionen als auch die Musikkultur selbst betrifft. Es gelang der polnischen Mehrheitsgesellschaft trotz der russischen Herrschaft, die kulturellen Einrichtungen in der Stadt für ihre nationalen Zwecke einzuspannen. Allerdings besaßen die Musikinstitutionen meist einen elitären Zuschnitt und nur ein kleines Publikum, was eine größere gesellschaftliche Breitenwirkung oder Popularisierung der Oper und der Konzertmusik verhinderte. Für Wilna weist der Verfasser überzeugend nach, dass es dort trotz der starken Position der polnischsprachigen Bevölkerung keiner Gruppe gelungen ist, das Musik- oder Kulturleben für sich zu monopolisieren. Daher existierten nicht nur polnische und jüdische, sondern auch russische, weißrussische und litauische Musikinstitutionen. Wie Ritter zeigt, nutzten die verschiedenen, national fundierten Musikvereine, Orchester etc. aber häufig die gleichen Aufführungsorte. Während der Verfasser in beiden Fallstudien instruktiv zwischen verschiedenen ethnonationalen Teilgesellschaften unterscheidet, differenziert er leider kaum zwischen verschiedenen sozialen Gruppen wie dem Adel, dem Bürgertum oder den Unterschichten. Vor allem die umfangreichen Arbeiten von Michael G. Müller über den Adel und Adeligkeit in Ostmitteleuropa wären hier instruktiv gewesen und hätten das Buch gerade in seinem Kernbereich der Gesellschaftsgeschichte bereichert.

Der Sammelband von Loos und Keym erweitert den Kenntnisstand über das mittlere und östliche Europa vor allem in Bezug auf bestimmte Schulen, Komponisten und Werke. Dabei stechen die Parallelen zwischen der (versuchten) Nationalisierung von Musik in Deutschland und Ostmitteleuropa ins Auge, was die gängige strukturgeschichtliche Definition dieser Region indirekt infrage stellt. Allerdings wurde der Band leider nicht komparativ konzipiert und wird auch nicht entsprechend eingeleitet, sodass hier ein Teil seines analytischen Potenzials verschenkt worden ist. Von besonderem Interesse wären die kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ländern der Region und die Frage, ob die nationale Vereinnahmung von Musik und die anschließende Gegenbewegung in der musikalischen Moderne nach einem bestimmten Muster verliefen. Viele Beiträge, insbesondere der instruktive Text von Stefan Keym über Polen, deuten darauf hin, dass die konstruierten Nationalstile auf zahlreichen Gemeinsamkeiten und einer vorherigen gegenseitigen Beeinflussung beruhen. Zur Analyse dieser Phänomene wäre neben dem Vergleich insbesondere der Ansatz der Transfergeschichte zu empfehlen. Dies gilt auch für die von Helmut Loos herausgegebene Publikationsreihe "Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa", die umfangreiche empirische Ergebnisse hervorgebracht hat, die aber noch einer weitergehenden theoretischen Fundierung und Einordnung bedürfen. Auch hierfür bietet sich die Zusammenarbeit zwischen Musikwissenschaftlern und Historikern an, für die Leipzig ungewöhnlich gute Voraussetzungen bietet. Im Falle von Ritter darf man auf dessen demnächst erscheinende und interdisziplinäre Biografie über Stanisław Moniuszko gespannt sein.

Philipp Ther