Claudia Hiepel / Mark Ruff (Hgg.): Christliche Arbeiterbewegung in Europa 1850-1950 (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte; Bd. 30), Stuttgart: W. Kohlhammer 2003, 239 S., ISBN 978-3-17-018124-3, EUR 20,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Hindrichs / Uwe Jürgenhake / Christian Kleinschmidt: Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen: Klartext 2000
Willy Brandt: Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck - Exil in Norwegen 1928-1940. Bearb. von Einhart Lorenz, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002
Paul Addison / Harriet Jones (eds.): A Companion to Contemporary Britain. 1939-2000, Oxford: Blackwell 2005
Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München: Oldenbourg 2012
Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel / Guido Thiemeyer et al. (Hgg.): Grenzüberschreitende institutionalisierte Zusammenarbeit von der Antike bis zur Gegenwart, Baden-Baden: NOMOS 2019
Christoph Brüll / Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel u.a. (Hgg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945-1995, Baden-Baden: NOMOS 2020
Über die Krise der Arbeitergeschichte zu lamentieren gehört für die wenigen, die sich dafür noch interessieren, beinahe zur rituellen Begrüßungsformel. Das verlorene Subjekt, der "Abschied von der Proletarität" und die Erosion sozialer Milieus, dazu die geschlechtsspezifische Eindimensionalität und die übergestülpten Klassenkonzepte der soziologischen Großmogule Karl Marx und Max Weber: all das zusammen und einiges mehr haben viel vom Charme der einst so jugendlich frischen Teildisziplin der Sozialgeschichte verblassen lassen. Doch im Windschatten generationeller Ablösungskonflikte innerhalb der Historikerzunft selbst und ihrer theoretischen Neuausrichtung ist viel mehr passiert als man sich vor einigen Jahren noch hätte träumen lassen, selbst wenn die Impulse dafür nur noch in Ausnahmefällen aus Deutschland kommen. Umso spannender ist deshalb das Projekt einer vergleichend angelegten europäischen Arbeiterbewegungsgeschichte, zumal dann, wenn dabei, wie im vorliegenden Fall, ein spezifisch konfessioneller Zugang gewählt wird.
Die "christliche Arbeiterbewegung" von ihren Gründungsjahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die unmittelbaren Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkrieges: das ist der Zeitraum, den die Autoren sich vorgenommen haben und den sie für Deutschland und das westliche Europa, allen voran die Benelux-Länder untersuchen. Der Charakter der Beiträge ist dabei sehr unterschiedlich: Regionalstudien wie die über die Gründungsgeschichte der katholischen Arbeitervereine im Ruhrgebiet (Michaela Bachem-Rehm), die Organisationen katholischer Arbeiter in Oberschlesien zwischen 1870 und 1914 (James Bjork) oder die Gründungs- und Untergangsgeschichte der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte (Mark Edward Ruff) stehen breite, eher kursorische Überblicksaufsätze entgegen, die einzelne Länder epochenübergreifend behandeln. Deren Nutzen liegt weniger in der Empirie oder neuen Interpretation, als in der Wissensvermittlung historiografischer Forschungskontexte, die vielfach aus dem Blick geraten sind und schon von daher einen erheblichen informatorischen Nutzen haben. Bemerkenswert ist vor allem der Beitrag von Urs Altermatt und Franziska Metzger über "Katholische Arbeiter und Milieuidentität in der Schweiz". Eindringlich können die beiden Autoren auf der Basis breiter Forschung zeigen, unter welchen Bedingungen ein katholisches, ultramontanes "Teilmilieu" entstand, dessen Arbeiterbewegung sich seit der Jahrhundertwende zunehmend differenzierte und sich gleichzeitig der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur anzupassen versuchte, ohne dabei das berufsständige, antisozialistische, antiliberale und bisweilen auch antisemitische Denken abzulegen.
Doch zugleich spiegelt die Machart des Bandes auch eines der Probleme der Arbeitergeschichte selbst wider. Denn trotz aller anfänglichen Bekenntnisse der Herausgeber bleiben die meisten Beiträge doch einer Art der Organisationsgeschichte der (christlichen) Arbeiterbewegung treu, deren Attraktivität und Innovationskraft man mit Fug und Recht als begrenzt bezeichnen darf. Leider gewinnt man auch nicht den Eindruck, als hätten sich die Beiträger einem einheitlichen oder gar vergleichenden Fragekanon unterzogen. Welche Bedeutung besaßen religiöse Kommunikationsformen für Inklusion und Exklusion der gerade erst entstehenden katholischen und protestantischen Milieus? Welche Formen von Ideentransfer bestanden in den Organisationen der europäischen christlichen Arbeiterbewegung? Wie wirkte sich der Ultramontanismus oder die Funktion des Klerus in den verschiedenen Ländern aus? Welche Wirkung besaß der Zweite Weltkrieg für die katholischen und protestantischen Arbeiterorganisationen? Waren es reine Verlustgeschichten? Mit Sicherheit nicht. Etwas mehr hätte man sich deshalb auch über den Einfluss von katholischer Soziallehre und christlichen Gewerkschaftern - jenseits der Organisationen - auf den sozialstaatlichen Wiederaufbau Westeuropas nach 1945 vorstellen können. Denn tatsächlich war deren Gewicht immens, lange Zeit prägend und tatsächlich häufig unterschätzt, gerne auch von der sozialdemokratisch inspirierten Arbeiterhistoriografie.
Nicht, dass eine Reihe von Ländern mit wirkungsmächtigen katholischen Arbeiterorganisationen wie Spanien in dem Band fehlen, ist bedauerlich, sondern dass die Beiträge nur mühsam über gemeinsame Leitfragen zusammen gehalten werden. Auffällig ist zudem noch etwas anderes: Bisweilen wird in den Beiträgen gegen Windmühlen angerannt, beispielsweise gegen den längst verblassten "Mythos der Arbeitergeschichte, der besagt, dass Industrialisierung und Urbanisierung zwangsläufig in Säkularisierungsprozesse münden müssen" (15). Nach der Lektüre der Einleitung drängt sich der Eindruck auf, als hätte die Geschichte christlicher Gewerkschaften angesichts der sozialistischen Übermacht nur im Untergrund oder in den Hinterzimmern katholischer Akademien stattfinden können. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass das eigentliche und in jeder Hinsicht verdienstvolle Anliegen des Bandes, nämlich die Bedeutung von Religion als zentralem gesellschaftlichen Kommunikationsmedium zur gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion zu unterstreichen, auch in der Arbeiterorganisationsgeschichte wachsendes Gehör findet. Vielleicht dann aber in etwas konturierterer Form.
Dietmar Süß