Rezension über:

Penelope Murray / Peter Wilson (eds.): Music and the Muses. The Culture of 'Mousikē' in the Classical Athenian City, Oxford: Oxford University Press 2004, XIII + 438 S., ISBN 978-0-19-924239-9, GBP 68,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Andrea Scheithauer
Seminar für Klassische Philologie, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Scheithauer: Rezension von: Penelope Murray / Peter Wilson (eds.): Music and the Muses. The Culture of 'Mousikē' in the Classical Athenian City, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/6757.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Penelope Murray / Peter Wilson (eds.): Music and the Muses

Textgröße: A A A

Die vorliegende Monografie enthält 13 Beiträge eines 1999 an der Universität Warwick veranstalteten Kolloquiums, welche die innovative Erforschung der für alle Lebensbereiche der Griechen höchst wichtigen mousikē zum Ziel haben (1). Das Thema wird am Beispiel des klassischen Athen untersucht, weil in dieser Stadt zahlreiche Agone im Rahmen von Festen ausgetragen wurden, dort kritisch über die Musiktheorie reflektiert wurde und für diese Vorgänge ein reiches Quellenmaterial vorliegt (3 f.).

Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert: In Teil 1 wird die Rolle der mousikē in der Religion (9-118), in Teil 2 ihre Funktion auf der Bühne (119-204), in Teil 3 die Beziehung zwischen ihr und der Politik (205-306) sowie in Teil 4 ihre Aufgabe in der Erziehung thematisiert (307-389). Eine umfangreiche Bibliografie (390-429) und ein Index, in dem Personen und Sachen erfasst sind (431-438), runden das Werk ab.

In Teil 1 richten die Gelehrten ihr Augenmerk vornehmlich auf den Chorgesang, weil er das Herz der religiösen Praktiken jeder griechischen Stadt war. Einerseits wird seine Bedeutung in der Gesellschaft einer Polis erörtert (Barbara Kowalzig, 39-65), andererseits wird die wenig beachtete Praxis des Chorgesanges und Tanzes in bestimmten Situationen dargelegt. So werden Tanz und Gesang bei den Theoriai der Athener (Ian Rutherford, 67-90), die Musikausübung bei den Mysterien (Alex Hardie, 11-37) und die problematische Bedeutung der Pyrrhiche untersucht (Paola Ceccarelli, 91-117).

In den drei Beiträgen des 2. Teils steht der Chor im Rahmen von Dramen-Aufführungen im Zentrum des Interesses. Unter Heranziehung von Chorritualen aus dem Alltagsleben der Griechen wird der Frage nachgegangen, ob der Tragödienchor ein ritueller Chor war (Eva Stehle, 121-155). Ferner werden die Formen des Chors in den Komödien des Aristophanes (Claude Calame, 157-184) und die in der Forschung vernachlässigte Figur der Nachtigall samt ihrer Rolle in den "Vögeln" dieses Dichters abgehandelt (Andrew Barker, 185-204).

Die drei Beiträge des 3. Teils sind der politischen Bedeutung der mousikē gewidmet. Besondere Aufmerksamkeit wird der Neuen Musik (Eric Csapo, 207-248) und den Saiteninstrumenten sowie ihrer Wichtigkeit für die Selbstdarstellung der Griechen geschenkt (Peter Wilson, 269-306). An der Person des Damon von Oa wird eruiert, ob ein Zusammenhang zwischen der von ihm entwickelten Ethoslehre und seiner Ostrakisierung, d. h. zwischen Musik und Politik, bestand (Robert Wallace, 249-267).

Im 4. Teil des Werkes wird der Wert der Musenkunst in der Erziehung durch die Interpretation der einschlägigen Passagen aus dem 8. Buch der Politik des Aristoteles erhellt (Andrew Ford, 309-336). Weil Musik als Mittel der Erziehung dient, wird am tanzenden Sokrates in Xenophons Symposium nachgewiesen, wie Tänze Reflexionen über philosophische Themen anregen konnten (Victoria Wohl, 337-363). Eine Studie über die Musen und ihre Künste beschließt diesen Teil (Penelope Murray, 365-389).

Die wesentlichen charakteristischen Merkmale dieser Kongressakten, die Fragestellung und Argumentation der einzelnen Autoren seien in dieser Besprechung exemplarisch an zwei Beiträgen verdeutlicht. Alex Hardie setzt sich in seinem Aufsatz "Muses and Mysteries" (11-37) zum Ziel, die Stellung und die Macht der Musik in den Initiationsriten zu bestimmen, sie dadurch in den Rahmen der griechischen mousikē zu integrieren und so ihre Verwandtschaft mit der klassischen Dichtung erneut zu bewerten (14). Damit bezieht er die mit der Religionsausübung verbundene Musik und deren Aufführung in die Untersuchung ein, Aspekte, die bisher noch zu wenig berücksichtigt wurden (4). Er weist nach, dass die mousikē in der Exegese der griechischen Mysterien sehr wichtig war, und präzisiert die Ergebnisse eines Aufsatzes von Dirk Obbink, der davon ausgeht, dass die Kosmologie und die elementare Struktur des Universums samt dem eschatologischen Mythos einen Teil der Instruktion mystischer Initiation bildete (27). [1] Nach Alex Hardie enthielt mousikē kosmischen und eschatologischen Symbolismus, der sich im Gedankengut der Mysterien widerspiegelte, indem sie dem Mysten die Gegenwart der Musen zeigte und seine visuellen Erfahrungen ergänzte. Da er durch diese Kunst das kosmische Prinzip der Harmonie erfuhr, mit dem Gott in Verbindung gebracht wurde, seinen eigenen Platz im Kosmos begriff und ihm die Verewigung des eigenen Andenkens nach dem Tod sowie Erlösung in Aussicht gestellt wurde, verhalf sie zu einem besseren Verständnis des Kosmos (36 f.). Darüber hinaus zeigt Alex Hardie, dass der Musenkult von den Mysterien beeinflusst war.

Eric Csapo behandelt in seinem Beitrag "The Politics of the New Music" systematisch die Neue Musik samt den durch sie bedingten Wandel, ihren historischen Kontext, ihren Stil und ihre Rezeption (207-248). Er sieht in der Zunahme der Theater im 5. Jahrhundert v. Chr. die Voraussetzungen für tief greifende Veränderungen, die zur Herausbildung eines neuen Stils der Musik und seiner Pflege in diesem Umfeld geführt haben. Dieser Stil war durch Innovation, Abwechslung, Vielseitigkeit und theatralisches Auftreten der Künstler gekennzeichnet. Dieser Wandel wirkte sich nicht nur auf die Instrumente und die Erscheinungsformen der Musik aus, sondern führte auch zu Verstößen gegen die Tradition. Da die Griechen einen Zusammenhang zwischen politischer Ordnung, Moral und disziplinierter Musik annahmen, politisierten sie den neuen Stil; denn sie waren überzeugt, dass Veränderungen in der Musik mit politischem Wandel einhergingen. Sie warfen diesem Stil mangelnde Disziplin und Kontrolle vor. Ferner war er in ihren Augen verweichlicht, barbarisch und zügellos und verstieß gegen die etablierte Musik, die als männlich, edel und griechisch galt. Um sich gegen die Berufsmusiker aus dem einfachen Volk zu behaupten, traten die vornehmen Kreise für ihre ethische und kulturelle Überlegenheit ein und apostrophierten die Neue Musik als Auswuchs der Demokratie.

Die einzelnen Teile des Sammelbandes sind zentralen Bereichen der Ausübung der mousikē gewidmet. Sie spielte in der griechischen Religion, in der Ausbildung der Jugend und im kulturellen Leben eine tragende Rolle. Ferner war sie in der griechischen Welt stets ein Politikum und wurde daher von den Institutionen der Polis überwacht und reglementiert. Da die Gelehrten die Kombination dieser Bereiche trotz ihrer Wichtigkeit noch nicht gebührend gewürdigt haben, ist dieses Buch eine willkommene Ergänzung der Publikationen zu diesem Thema. Darüber hinaus wird der in der Forschung üblichen Trennung von Musik und mousikē abgeholfen, indem alle Elemente der mousikē in die Untersuchung einbezogen werden. Von dieser Konzeption profitiert vor allem der von den Gelehrten in der Regel kaum beachtete Tanz (8), den Paola Ceccarelli und Victoria Wohl aus zwei einander ergänzenden Perspektiven abhandeln: Auf diese Weise werden neben dem Drama, das in einer Reihe neuerer Arbeiten untersucht worden ist, weitere Aufführungsformen auf der Bühne in die Studie einbezogen. Demnach wird in diesem Werk die mousikē nicht isoliert betrachtet, sondern als "cultural system" aufgefasst, das auch Beziehungen zur Politik aufweist. Schließlich wird in diesem Band einem weiteren in der Forschung bisher vernachlässigten Gebiet der athenischen mousikē, nämlich der so genannten Revolution der Neuen Musik, Aufmerksamkeit geschenkt (siehe die Beiträge von Eric Csapo 207-248, Andrew Barker 185-204 und Peter Wilson 269-306).

Insgesamt werden durch die vorliegende Monografie, die sich durch gründliche und zuverlässige Arbeitsweise auszeichnet, wegen der Integration der Musik in den kulturellen, geistesgeschichtlichen und politischen Kontext wichtige Lücken in der Forschung geschlossen und unsere Kenntnisse dieses Themas beträchtlich erweitert. Denn die Bedeutung dieses Phänomens kommt bei dieser Ausrichtung deutlicher zum Vorschein als bei seiner isolierten Betrachtung. Auf diese Weise wird außerdem seiner Komplexität besser Rechnung getragen als bisher; wird doch die Wechselbeziehung von mousikē und Religion, Bühne, Politik sowie Erziehung hervorgekehrt und die starke Durchdringung zentraler Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens von dieser Kunst aufgezeigt. Somit leistet dieser Band zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Mentalität der Griechen. Denn die mousikē spielte in ihrer Selbstdarstellung, bei der Vergangenheitsbewältigung mittels musischer Mythen und ihrer Sozialisierung eine bedeutende Rolle. Da mentalitätsgeschichtliche Studien zur Zeit aktuell sind, wird diese Arbeit den neuesten Tendenzen der Forschung gerecht und dürfte anderen Gelehrten wichtige Impulse geben.


Anmerkung:

[1] D. Obbink, Cosmology as Initiation vs. the Critique of Orphic Mysteries, in: A. Laks / G. Most (Hg.): Studies on the Derveni Papyrus, Oxford 1997, 39-54.

Andrea Scheithauer