Rezension über:

Gerhard Lutz: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 28), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2004, 304 S., ISBN 978-3-937251-61-5, EUR 49,95
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Rezension von:
Petra Marx
Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Petra Marx: Rezension von: Gerhard Lutz: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/7610.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Gerhard Lutz: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel

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Die bei Robert Suckale und Hartmut Krohm in Berlin entstandene und 2004 erschienene Dissertation widmet sich einem der Hauptthemen der christlichen Kunst, der Darstellung des Gottessohnes am Kreuz. In der historischen Umbruchsphase des 12. und 13. Jahrhunderts erfuhr die Gestaltung der im Zentrum der Arbeit stehenden Gattung der geschnitzten Kruzifixe grundlegende Veränderungen, die zwar immer wieder festgestellt, hinsichtlich ihrer Ursachen jedoch nicht eingehend untersucht wurden. So sind unter anderem eine Monumentalisierung und zunehmende Plastizität der Figur, die Betonung der menschlichen Natur Christi und seiner Leidensmerkmale, der Wechsel von der Königs- zur Dornenkrone und die Reduzierung von vier auf drei Nägel festzustellen. Für die angestrebte Analyse der Zusammenhänge zwischen einem Wandel in Theologie und Frömmigkeit einerseits und veränderten künstlerischen Maßstäben und Möglichkeiten andererseits eignete sich das Thema der Kreuzigung ganz besonders, da neben den Bildwerken selbst umfangreiche zeitgenössische Textquellen vorliegen, die vom Autor in diesem Zusammenhang erstmals detailliert ausgewertet wurden.

Ausgangsmaterial der aus zwei Teilen bestehenden Publikation sind die besonders zahlreich und mit vielen hochrangigen Beispielen erhaltenen Altar-, Vortrage- und Triumphkreuze aus dem hochmittelalterlichen Herzogtum Sachsen, zu dem große Teile Westfalens gehörten. Erweitert wurde diese Gruppe um Objekte aus angrenzenden Regionen wie Ostbrandenburg, dem Südosten Sachsens und dem südlichen Thüringen sowie um eine Reihe herausragender Bildwerke auf der schwedischen Insel Gotland. Im Textteil werden der Forschungsstand und der methodische Ansatz des Autors wiedergegeben, die Kruzifixe in ihren historischen und liturgisch-funktionalen Kontext gestellt, die Wechselbeziehungen zwischen Bildwerken und Schriftzeugnissen beleuchtet, das Problem der Erhaltungsbedingungen erläutert und in ausgewählten Fallbeispielen einzelne Aspekte vertieft. Der zweite Teil des Bandes bietet einen reich bebilderten Katalog zu knapp 100 Objekten, mit den entsprechenden Angaben zu Erhaltungszustand, Technik, Provenienz, Geschichte, Funktion und stilkritischer Einordnung, wobei je nach Bedeutung und Forschungslage der Grad der Bearbeitung variiert. Als Hilfestellung bei der Handhabe des Katalogs hätte man sich hier allerdings einen Ortsindex oder eine Überblickskarte und Verweise von den Katalognummern zur Erwähnung der Werke im vorderen Textteil gewünscht.

Als Basis für die eigene Herangehensweise liefert Lutz zunächst einen Überblick zur bisherigen Erforschung der hochmittelalterlichen Skulptur Sachsens. Da mit diesem Thema im frühen 19. Jahrhundert die mittelalterliche Kunstgeschichte in Deutschland ihren Ausgang nahm, handelt es sich zugleich um eine kritische Stellungnahme zur Fachdisziplin. Dabei wird deutlich, dass über die Entwicklung von Stilmodellen und die Frage nach Datierungen hinaus ein methodisch breiterer Ansatz nötig ist, um zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Die Tatsache, dass die von Lutz angewandte Kombination von Formen- und Stilanalyse, ikonografischen Überlegungen, Berücksichtung technologischer Aspekte und Einbeziehung des geistesgeschichtlichen Umfelds recht ausführlich begründet wird, macht klar, dass dies noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Nachdem Lutz die engen politischen und kunstgeografischen Verflechtungen in den von ihm betrachteten Regionen Sachsen, Westfalen und Thüringen dargelegt und eine allgemeine Ausrichtung auf das westlichen Kunst- und Wirtschaftszentrum Köln bzw. nach Frankreich konstatiert hat, wendet er sich dem sakralen Kontext der Bildwerke, ihrer Bedeutung in der Liturgie und ihrer Wahrnehmung durch die Betrachter zu. Besonders ertragreich sind die Ausführungen zu den Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Theologie und Frömmigkeitspraxis vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, welche die Grundlage für das neue Christusbild darstellen: vom entrückten Überwinder des Todes zum leibhaftigen, verwundbaren Menschen, der in Zwiesprache mit den Gläubigen tritt. Die Schlüsselrolle Bernhards von Clairvaux findet dabei ebenso Würdigung wie die Schriften zahlreicher anderer Theologen, deren Traktate, Viten, Visionsberichte und andere geistliche Literatur den Wandel in den Kunstwerken vorwegnehmen beziehungsweise reflektieren. Lutz gelingt hier der schlüssige Nachweis, dass die wachsende Beliebtheit plastischer Kruzifixe zu Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts mit möglichst nachvollziehbarer, eindringlicher Wiedergabe der Wundmale und Leidenspuren aufs Engste mit den geistigen Strömungen der Zeit, insbesondere mit einer verstärkten Passionsfrömmigkeit, verknüpft ist.

Die Fallbeispiele, fünf kleine Monografien zum Kruzifix der Stiftskirche in Cappenberg, den Triumphkreuzgruppen in Wechselburg und Halberstadt, dem Triumphkreuz in der Liebfrauenkirche ebenda und zu drei Kruzifixen auf Gotland, wurden nach einer gewissen zeitlichen und regionalen Streuung und auf Grund der Existenz restauratorischer Untersuchungen ausgewählt. Sie bieten dem Autor Gelegenheit, über die intensive Beschäftigung mit dem jeweiligen Gegenstand und damit verbundenen Erkenntnissen zu Ikonografie, Stil, Datierung, Herkunft oder Technik hinaus, übergeordnete Fragen zur sächsisch-westfälischen Skulptur des Hochmittelalters zu behandeln. So werden beim Cappenberger und beim Halberstädter Liebfrauen-Kreuz die Bedeutung der kölnischen Kunstproduktion als Schmelztiegel und Vermittler westlicher Strömungen diskutiert, die Betrachtung der Halberstädter Triumphkreuzgruppe ist Ausgangspunkt für einen Exkurs zu den englischen Einflüssen, die Beschäftigung mit Wechselburg führt über eine kritische Beleuchtung des 'sächsischen Zackenstils' unter anderem zu einer Neudatierung des Braunschweiger Grabmals Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin Mathilde im Kontext der memorialen Fürsorge ihres Sohnes. Konkret fassbar wird der Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Kulturlandschaften am Beispiel der gotländischen Kruzifixe, sei es durch aus Sachsen eingewanderte Künstler und Werkstätten oder den Transport rheinischer Bildwerke auf den Handelswegen der Hanse. Insgesamt zeigen die Fallbeispiele aber auch die formal-stilistische Bandbreite und eine motivische Vielfalt, die für das jeweilige Kunstwerk zu ganz individueller Wirkung und Aussage führten.

Den gut nachvollziehbaren und anschaulich formulierten Gedankengängen mag man bis auf wenige Ausnahmen gern folgen. Für die exemplarische Aufarbeitung eines Bildthemas und auf dem reichlich beackerten Gebiet der sächsischen Kunstgeschichte des 13. Jahrhunderts hat Gerhard Lutz mit seiner Arbeit einen fundierten, erkenntnisreichen und auch methodisch wichtigen Beitrag mit dem Charakter eines Nachschlagewerks geleistet. Mit Interesse bleibt abzuwarten, inwiefern eine soeben erscheinende Arbeit verwandten Inhalts [1] die gewonnenen Erkenntnisse zu den hochmittelalterlichen plastischen Kruzifixen vertiefen und ergänzen wird.


Anmerkung:

[1] Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert, erscheint im Oktober 2005.

Petra Marx