Monika Woitas: Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830 (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik; Bd. 6), Herbolzheim: Centaurus 2004, 438 S., ISBN 978-3-8255-0421-2, EUR 29,90
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Die Tanztheaterforschung hat den Paradigmenwechsel in Dramaturgie, Choreografie und Musik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in ihren kulturgeschichtlichen Dimensionen und einer strukturellen Zusammenschau bislang nur marginal verhandelt. Die historische Forschung konzentriert sich in der jungen, akademischen Disziplin Tanzwissenschaft auf die Geschichte von Künstlern, Orten und Balletten. Ein systematischer Zugriff, der konzeptionelle und performative Fragen der Tanzästhetik verhandelt, fehlt generell. [1] Historische Materialien wie Tanztheorien, Libretti, Ikonografien und Kritiken sind bislang nur unzureichend auf ihren Informationswert hinsichtlich tanztheatraler und bewegungsorientierter Fragen erforscht worden.
Die Autorin und Musikwissenschaftlerin Monika Woitas versucht in ihrem Habilitationsprojekt, das unter dem Titel "Im Zeichen des Tanzes" publiziert ist, diese Forschungslücke mit einem interdisziplinären Ansatz zu schließen. Die Tanzgeschichte im Untersuchungszeitraum von 1760 bis 1830 wird zum "Exempel darstellungstheoretischer und ästhetischer Überlegungen, wobei diese Fokussierung eben nicht willkürlich gewählt, sondern aus dem historischen Diskurs selbst abgeleitet ist." (7). In ihrer Annäherung an das Phänomen Tanz, im Kontext des ästhetischen Diskurses der darstellenden Künste, arbeitet die Verfasserin vor allem die Analogien von Tanz- und Theatertheorien heraus, die sie um musiktheoretische und -ästhetische Fragestellungen erweitert.
Wie quellenorientiert nachgewiesen wird, gliedern die Tanzschriften von Jean-Georges Noverre und Gaspero Angiolini aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Ballett in den Raster der repräsentativen Künste ein und versuchen, das Tanztheater als eigenständige Kunstform zu etablieren. Geste und Pantomime bekommen einen herausragenden Stellenwert im tanztheoretischen Diskurs. Diese Fokussierung auf die dramatische Qualität des Tanzes korreliert mit den in Schauspieltheorien archivierten Bemühungen, das nonverbale Ausdruckspotenzial des Schauspiels und die 'Menschendarstellung' in den Blickpunkt zu rücken (5). Das Tanztheater avanciert um 1800 zum innovativen Experimentierfeld, das nach Woitas durch zwei grundsätzliche Positionen bestimmt ist: Spielart dramatischer Darstellung oder Manifestation spezifischer Bewegungsmuster (12). Tanztheoretische Fragestellungen werden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fächerübergreifend und intellektuell-philosophisch mit dem Fokus auf Erscheinungsformen, Bedingungen und Möglichkeiten von Bewegungen diskutiert. Die einleitende Erörterung des Wandels des Naturbegriffes in den ästhetischen Künsten versucht den Tanz und das Tanztheater im ästhetischen Diskurs der Zeit zu positionieren. Das Konzept der Imitatio (18. Jahrhundert) wird von der romantischen Imagination der Natur (19. Jahrhundert) abgelöst und spiegelt sich in der Theorie sowie in choreografischen, dramaturgischen und musikalischen Praktiken.
In der Abhandlung von zentralen Fragen der Tanztheorie (Dramaturgie, choreografische Aspekte, Tanz und Musik) wird der Paradigmenwechsel in der szenischen und gesellschaftlichen Tanzkunst, durch den das Gestaltungsprinzip der Naturnachahmung zu Gunsten formalästhetischer Wertkriterien und bewegungstechnischer Virtuosität zunehmend in Frage gestellt wird, anhand von historischen Quellen wie Tanztheorien, Kritiken, Theatertheorien und Libretti und Ikonografien beschrieben und analysiert. Tanz wird im zeitgenössischen, theoretischen Diskurs zum Modellfall, an dem "sich die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Darstellung gleichermaßen demonstrieren wie kritisch hinterfragen lassen" (352).
Die Verhandlung des Darstellungspotenzials des Körpers, die nonverbale, pantomimische Ausdrucksqualität und seine sinnliche (Re-)Präsentation auf der Bühne wird an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu einem zentralen Baustein der Theoriebildung in den ästhetischen Künsten (Musik, Theater und Tanz). "Im Zeichen des Tanzes" konnte also auch, das kann als eine zentrale These der Forschungsarbeit gelesen werden, das Spektrum der Schwesterkünste und -disziplinen erweitern. Der "zwischen Ausdruck und Form" tanzende Körper (352) und der Tanz als Genre "zwischen Drama und Musik" (360) wird so für einen definierten Zeitraum von einigen Jahrzehnten als Bindeglied herausgearbeitet. Doch nicht nur der Bühnentanz, sondern auch der Gesellschaftstanz der Zeit steht im Zeichen der von der Ballettreform propagierten und praktizierten Aufwertung des theatralischen Tanzes zur mimetischen Kunst (297). Die erweiternde Auswertung der Quellen zum Gesellschaftstanz bestärkt die These, dass Bühnen- und Gesellschaftstanz mit ähnlichen choreografischen und dramaturgischen Intentionen (in unterschiedlicher Gewichtung) operieren. Die Bühne wird nach Woitas zum "Vorbild für den Ballsaal" (334). Eine Sonderstellung nehmen hier die populären Nationaltänze ein, die um 1800 vermehrt auf der Bühne zum Einsatz kommen. Diesen wird in der Tanztheorie eine ausgesprochen mimetische Qualität zugeschrieben.
Monika Woitas markiert mit der Tanztheorie von Carlo Blasis (Traité Elémentaire (1820) und Code of Terpsichore (1828)) einen Abschluss und eine Zäsur in ihrer Forschungsanlage. Sie versucht nachzuweisen, dass die Vorrangstellung des Tanzes im ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste kontinuierlich abnimmt und argumentiert das mit der Konzentration auf bewegungstechnische Details, einer inhaltlichen Verflachung der Ballette und einer Abwertung des spezifischen Ausdruckspotenzials des Tanzes. Die ästhetische Befragung der Konzepte und Gestaltungsprinzipien tritt in den Hintergrund und macht die Tanztheorie für andere Kunstsparten unzugänglicher (14). Gerade die Dramatisierung des Tanzes im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts machte einen Schulterschluss mit dem Theater- und der Musiktheorie möglich, wie fundiert nachgewiesen wird.
Hier stellt sich aus tanzwissenschaftlicher Sicht jedoch die Frage, ob die Spezifität des Tanzes nicht auch gerade in der jeweils spezifischen Formung von Bewegung liegt. Der interdisziplinäre Forschungsansatz der Autorin fokussiert ästhetische Konzepte, analysiert den Körper in seiner Erscheinungsform und als Handlungsträger. Das spezifische Aktionspotenzial von durch Tanztechnik und Choreografie gestalteter Bewegung und die Dimension der kinetischen Theatralität des Tanztheaters und Gesellschaftstanzes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lässt sich nur in Spuren lesen. Was blendet man in Historie und Gegenwart also aus, wenn der Tanz zum Zeichen wird?
Monika Woitas leistet für die junge Disziplin Tanzwissenschaft dringend notwendige historische Grundlagenforschung, die höchst interessante und brennende Fragen aufwirft und sicher als ein zukünftiges Standardwerk bezeichnet werden kann.
Anmerkung:
[1] Siehe auch Claudia Jeschke: Das Fremde als Imagination authentischen Verhaltens, Korporale Stereotypen im romantischen Ballet, in: Christopher Balme (Hg.): Das Theater der Anderen, Tübingen 2001, 121-142.
Nicole Haitzinger