William D. Godsey, Jr.: Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750-1850, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XI + 306 S., ISBN 978-0-521-83618-0, GBP 48,00
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Elizabeth Harding / Michael Hecht (Hgg.): Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion - Initiation - Repräsentation, Münster: Rhema Verlag 2011
Michael Sikora: Der Adel in der Frühen Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009
Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Stuttgart: UTB 2008
Die Arbeit des als Kenner der Adelsgeschichte ausgewiesenen Autors widmet sich einem bisher kaum behandelten Thema: dem Zusammenhang zwischen den Erfahrungen der mitteleuropäischen Adelswelt der "Sattelzeit" einerseits und der Entstehung eines modernen deutschen Nationalbewusstseins andererseits. Konkreter geht es dabei um die mittelrheinischen Reichsritter, insbesondere sofern sie zu jenen Familien zählten, die im Mainzer Domkapitel vertreten waren.
Deren ökonomische Situation vor 1789/92 steht im Mittelpunkt des ersten Kapitels. Dabei stellt der Verfasser, die bisherige Forschungsmeinung modifizierend, fest, dass viele dieser Familien zwar ähnlich wie zahlreiche schwäbische und fränkische Ritter hoch verschuldet waren, aber doch durch ihr Vermögen und ihr Einkommen, nicht zuletzt aus "geistlichen Quellen", keineswegs vor dem Ruin standen.
Die folgenden beiden Kapitel behandeln die Frage, wie regionalistisch bzw. kosmopolitisch denkende Adelige zu "Deutschen" werden konnten. Das traditionelle Konzept eines "reinen Stammbaums" (d. h. der Forderung nach einer bestimmten Generationenzahl adeliger väterlicher und mütterlicher Ahnen) sei durch die neue Vorstellung vom "Uradel", also die Betonung einer möglichst weit zurückreichenden patrilinearen Folge, abgelöst worden. Damit vermochten sich Angehörige alter Adelsfamilien in die neue Konzeption einer deutschen "Kulturnation" einzufügen, ohne als "Träger der Kontinuität der Nation" ihren traditionellen Anspruch auf Führungspositionen aufzugeben. Ausgangspunkt war die Zerstörung einer von Brabant bis Wien reichenden "geo-kulturellen Landschaft" zwischen 1750 und 1850. Das Schicksal von vier repräsentativen Familien "between destruction and survival" wird danach für diese Zeit näher unter die Lupe genommen.
Ein weiteres Kapitel widmet sich jenem mehr als ein Drittel umfassenden Teil der mittelrheinischen Ritterfamilien, welche früher oder später in die Habsburgermonarchie emigrierten. Vielen gelang dort die Integration in die (sogar hof-)aristokratischen Kreise. Umgekehrt verstärkten sie in ihrer neuen Heimat die Tendenz, an der herkömmlichen Hochschätzung des "Stammbaums" festzuhalten. Am Beispiel der Coudenhoves wird im 6. Kapitel gezeigt, wie die Zuwendung zur "katholischen Erneuerung" bei dieser Integrationsleistung hilfreich sein konnte.
Abschließend werden als Protagonisten der jeweiligen Richtungen der zeitweilige preußische Minister Stein und der österreichische Staatskanzler Metternich einander gegenübergestellt. Beide verfügten, von ihrer konfessionellen Herkunft abgesehen, über einen durchaus ähnlichen sozialen Hintergrund. Der eine, frühzeitig historisch interessiert, übernahm und prägte die Richtung eines konservativen deutschen Nationalismus als "perhaps the very first noble German" (248). Der andere hingegen bekämpfte den modernen Nationalgedanken und setzte - auch gegen die Vorstellungen von Kaiser Franz I. - auf die (adelige Stellung in den) landständischen Korporationen und deren durchaus noch vorhandene Kooperationsbereitschaft mit der zentralen Staatsgewalt.
In wenigen Punkten würde ich dem Verfasser dieser eindrucksvollen, zeitweise vielleicht ein wenig detailverliebten, am Ende ein bisschen redundanten Studie nicht ganz folgen. Der "reine Stammbaum" scheint mir etwas zu pauschal als das große Ideal des frühneuzeitlichen europäischen Adels dargestellt zu sein, wenngleich es natürlich z. B. auch in Frankreich oder Spanien Korporationen gab, die streng auf ihn achteten. Mir scheint dies primär ein Anliegen im weiteren Sinne geistlicher Institutionen (wie Ritterorden, Domkapitel, Damenstifte), seltener weltlicher Organisationen gewesen zu sein (vgl. 53, 83). Die "Nationalisierung" von Teilen des Adels begann möglicherweise nicht erst 1789. [1] Vor allem aber frage ich mich nach der Repräsentativität der neuen Adelskonzeption Steins. Verlief die Grenze zwischen einer traditionalistisch-kosmopolitischen und einer ebenfalls sozialkonservativen, aber "kulturnationalen" adeligen Orientierung nicht eher zwischen Österreich und dem katholischen Süddeutschland auf der einen und dem protestantischen Deutschland auf der anderen Seite als zwischen Österreich und "Deutschland" (vgl. 210 f.)?
Diese Bedenken wenden sich lediglich gegen Thesen, die in einem weitgehend unerforschten Bereich Markierungspunkte setzen. Auch deshalb ist das vorgestellte Buch wichtig: nicht nur, weil es viele neue Erkenntnisse und Einsichten vermittelt, sondern auch, weil es Fragen aufwirft, die zu weiteren Forschungen anregen.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Walter Demel: "European nobility" oder "European nobilities"? Betrachtungen anhand genealogischer Verflechtungen innerhalb des europäischen Hochadels (ca. 1650-1800) in: Wolf D. Gruner / Markus Völkel (Hg.): Region - Territorium - Nationalstaat - Europa. Beiträge zu einer europäischen Geschichtslandschaft. Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 70. Geburtstag am 7. Oktober 1998 (= Rostocker Beiträge zur Deutschen und Europäischen Geschichte; Bd. 4), Rostock 1998, 81-104.
Walter Demel