Martin Jhering: Hofleben in Ostfriesland. Die Fürstenresidenz Aurich im Jahre 1728 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 223), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2005, 168 S., 16 Abb., ISBN 978-3-7752-6023-7, EUR 25,00
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Auch im historischen Gedächtnis der gewiss nicht traditionsvergessenen Ostfriesen ist kaum verankert, dass es an "ihrem" Fürstenhof in Aurich ein "höfisches Leben" gab, dessen Prachtentfaltung und Ausgestaltung den Vergleich mit anderen, ungleich größeren Fürstenresidenzen des Ancien Régime nicht zu scheuen braucht. Dies mag auch daran liegen, dass der preußische Staat, der nach 1744 die Regierung in Ostfriesland antrat, mit den materiellen Zeugnissen der fürstlichen Zeit weitgehend "tabula rasa" machte. Eine Art Momentaufnahme des Lebens am Hof des letzten ostfriesischen Fürsten zu Beginn des 18. Jahrhunderts bietet uns die Arbeit von Martin Jhering, entstanden als Magisterarbeit an der Georg-August-Universität Göttingen. Die klar gegliederte Untersuchung bezieht sich in der Hauptsache auf eine einzige Quelle: die heute in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg verwahrten Reiseaufzeichnungen zweier Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth aus dem Jahr 1728 im Umfang von 194 Seiten, die über einen knapp siebenmonatigen Aufenthalt der Prinzen am Hof ihrer Verwandten in Aurich berichten. Dies mag zunächst als dürftige Quellengrundlage erscheinen, indes, die 111-seitige Darstellung (plus Anhang von 56 Seiten) belehrt eines Besseren.
Jhering stellt zunächst Möglichkeiten und - durchaus selbstkritisch - Grenzen der aus dem genannten Reisediarium zu schöpfenden Erkenntnisse vor. Zu Recht betont er, dass innerhalb der Hofforschung die Untersuchung eines pietistischen Hofes, wie ihn Aurich repräsentiert, erst in Ansätzen geleistet ist. Stand und Perspektiven sowie Methoden der Forschung über die deutschen bzw. europäischen Höfe werden einleitend ebenso wie die regionale Forschungssituation prägnant dargestellt und auf das gegebene Thema erkenntnisleitend gespiegelt. Zuzustimmen ist dem Fazit der Einleitung, dass es vor weiteren allgemeinen Typisierungsansätzen einer größeren Zahl von konkreten Fallstudien bedarf.
Nachdem Jhering die "Rahmenbedingungen" des Auricher Hofes bzw. des Fürstentums Ostfriesland vorgestellt hat (u. a. Größe, Bevölkerung, Wirtschaftsstruktur und -kraft) und nicht zu Unrecht betont, dass das ostfriesische Herrscherhaus in der jüngeren Forschung zu Gunsten der ostfriesischen Stände gelegentlich etwas gering, wenn nicht gar abschätzig beurteilt worden ist, unterzieht er seine Hauptquelle einer eingehenden kritischen Würdigung. Als Autor des Reisediariums vermutet er ein Mitglied aus der höfischen Sphäre der beiden jungen Markgrafen, die 1727/1728 auf ihrer Kavalierstour Station in Aurich machten. Natürlich werden die "Besucher", die Markgrafen Friedrich Ernst und Friedrich Christian, und der "Besuchte", Fürst Georg Albrecht, mit dem jeweiligen Umfeld eingehend vorgestellt. Der Auricher Hof umfasste um diese Zeit etwa 211 Hofbediente, eine eher geringe Zahl gemessen an vergleichbaren Territorien.
Jhering zeichnet im Folgenden ein detailreiches Bild dieses Hofes, wobei er neben der Literatur auch weitere archivalische Quellen herangezogen hat: "Funktions-Personal", Ämter, Adelspersonal und die zum ostfriesischen Hof gehörenden Bauten (mit anschaulichen Lageplänen und Fotos) werden ebenso untersucht wie die "Hofkultur", also der Stellenwert und die Ausgestaltung von Kirche und Frömmigkeit, von Musik und Theater. Mit einem Wort: Jhering führt uns die "Inszenierung der Öffentlichkeit" durch Zeremoniell, Festlichkeiten und andere repräsentative Veranstaltungen (Reiten und Jagden, besonders die Moorhuhnjagd) sowie die Vielzahl der adligen "Divertissements", von Besuchen bis hin zu winterlichen Schlittenfahrten, plastisch vor Augen.
Die zum Auricher Hof gewonnenen Erkenntnisse fasst Jhering in seinem Fazit prägnant zusammen, dabei den ostfriesischen Befund in den Kontext anderer deutscher Höfe (insbesondere in Bezug auf die pietistische Frömmigkeit) und der Hofgeschichtsforschung überhaupt stellend. Der "Sinn" oder die Funktion des Auricher Hoflebens bestand demnach weder in einer Art absolutistischer "Show" zur Verbreitung der Aura feudaler Macht gegenüber den Untertanen noch darin, den Landesadel zu domestizieren. Eine politische Funktion hatte die dort inszenierte Öffentlichkeit natürlich gleichwohl.
Jherings Untersuchung kann für die Erforschung der Geschichte des Auricher Fürstenhofes, das ergibt sich schon allein aus dem Rahmen, in dem sie entstanden ist, nur ein Anfang sein. Für die Hofgeschichtsforschung im Allgemeinen liefert die Arbeit gleichwohl einen wichtigen Baustein. Die Regionalforschung profitiert gleichermaßen von dieser Arbeit, hebt sie doch unter anderem auch die Bedeutung des ostfriesischen Hofes und der ostfriesischen Fürstenfamilie erneut und anschaulich in das Bewusstsein (nicht nur, aber besonders) der Ostfriesen. Der mit zahlreichen, teils farbigen Abbildungen versehene Band ist gut zu lesen und nicht nur für den Bücherschrank eines geschichtsinteressierten Ostfriesen eine empfehlenswerte Ergänzung. Sollte der Magisterarbeit auf breiterer Quellenbasis eine größere Studie zum Auricher Hof folgen, darf die Hofgeschichtsforschung sich auf einen Gewinn bringenden Beitrag freuen.
Jan Lokers