Rezension über:

Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei (= Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft; Bd. 11), Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 270 S., 15 Abb., ISBN 978-3-8260-2745-1, EUR 39,80
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Rezension von:
Thierry Greub
Art Centre Basel
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Thierry Greub: Rezension von: Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/8439.html


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Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer

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Nach Gilles Deleuze gibt es drei berechtigte Gründe für das Schreiben eines Buches: Erstens, wenn der Verfasser der Auffassung ist, alle anderen Bücher und die gesamte restliche Forschung zu einem spezifischen Thema unterliege einem Grundirrtum; zweitens, wenn er meint, es sei ein wesentlicher Punkt bei der bisherigen Behandlung seines Gegenstandes vergessen worden; und drittens, wenn er in diesem Buch einen neuen Begriff erschaffen möchte. Mithin sollte ein publiziertes Buch nach Deleuze möglichst eine polemische, eine erfinderische und eine schöpferische Funktion besitzen. [1] Wie zu zeigen sein wird, erfüllt das anzuzeigende Buch von Sara Hornäk alle drei Kriterien.

Die Schriften von Deleuze über Spinoza bilden den indirekten Bezugsrahmen für Hornäks Studie über Spinoza und Vermeer. Hornäk geht es in ihrer Arbeit darum, das philosophische Hauptwerk Spinozas, seine Ethica ordine geometrico demonstrata, mit dem Schlüsselbegriff der 'Immanenz' zu erklären und zudem die Radikalität und die Lebensbejahung der Philosophie Spinozas herauszuarbeiten. Der Schlussteil des Buches unternimmt es am Beispiel von Johannes Vermeer, den Begriff der Immanenz auch für die Kunstgeschichte fruchtbar zu machen.

Der Hauptteil des Buches besteht in einer Analyse der gesamten Ethik. Diese Relektüre konzentriert sich vor allem auf den Nachweis des Konzeptes der Immanenz in Spinozas Werk; "Immanenz" bezeichnet eine Deutung der Welt, die ganz ohne Referenz auf etwas außerhalb Liegendes auskommt und sich ausschließlich aus sich selbst begründet. Nach diesem Hauptteil folgt eine kürzere historische Herleitung des Begriffes der Immanenz, in dem vier Begriffe von Philosophen vor Spinoza darauf überprüft werden, inwieweit sie den radikalen Moment des Begriffes Immanenz von Spinoza einlösen. [2] Der letzte Teil der Studie von Hornäk untersucht, ob parallel zur Philosophie auch in der Kunst von Immanenz gesprochen werden kann. Sie wählt zu diesem Zweck Johannes Vermeer als Beispiel, um Immanenz auch im Kunstdiskurs zu etablieren.

Warum gerade Vermeer? Und vor allem: Warum wieder Vermeer? Hatte doch unlängst Hubertus Schlenke seine Dissertation darüber geschrieben, wie "Vermeer mit Spinoza gesehen" werden kann. [3] Doch diese Arbeit hat die mit dem Thema geweckten Erwartungen kaum eingelöst. Ungelenk geschrieben und durch zahlreiche falsche Begriffsverwendungen entstellt, erlaubt sie es ohne weiteres, das Thema Spinoza und Vermeer unter dem neuen Aspekt der Immanenz erneut zu behandeln.

Denn was für eine suggestive Konstellation liegt hier vor! Auf der einen Seite der optische Linsen schleifende Philosoph, auf der anderen der Maler Vermeer, der nebenher noch als Gastwirt und Kunstexperte tätig war. Beide werden im gleichen Jahr 1632 geboren, beiden wird ein sehr zurückgezogener und ärmlicher Lebenswandel nachgesagt und das alles in unmittelbarer geografischer Nähe: Spinoza wächst in Amsterdam auf, Vermeer in Delft, Spinoza zieht 1660 nach Rijnsberg bei Leiden, 1663 nach Voorburg in der Nähe von Den Haag und 1669 endgültig in den Regierungssitz - nur wenige Kilometer von Delft entfernt, wo Vermeer unauffällig und (zum Leidwesen der Forscher) ohne groß aktenkundig zu werden, seine Bilder malt. Spinoza schreibt seine erste Abhandlung 1660 und beendet sein opus magnum die Ethik 1675, im Jahr, in dem Vermeer an "Phrenesie", wie seine Frau später behaupten wird, stirbt. [4] Spätestens 1660 war Vermeer endgültig ins geräumige Haus seiner Schwiegermutter umgezogen, dem Ort, wo die Gemälde seiner "reifen Zeit" entstehen sollten. Vermeer selbst reiste mindestens zweimal nach Amsterdam und mehrmals nach Den Haag. Die Parallelen ließen sich problemlos erweitern - sie bleiben jedoch spürbar äußerlich und recht beliebig.

Leider sind diese "parallelen Leben" nur Gedankenspiele, solange nicht anhand eines Archivbeleges eindeutig bewiesen werden kann, dass sich Vermeer und Spinoza wirklich begegnet sind. Diese Tatsache hat die Vermeer-Forschung jedoch nie davon abgehalten, neben der geografischen auch eine "geistige" Verwandtschaft zwischen dem Philosophen und Vermeer anzunehmen. Doch blieben diese Äußerungen stets sehr allgemein und unpräzise. Im Buch von Hornäk stehen den 180 Seiten zu Spinoza dann auch nur 58 Seiten zu Vermeer gegenüber. Um in ihrem "Exkurs" (188) zeigen zu können, dass Vermeers Gemälde Immanenz realisieren, stellt Hornäk mithilfe ihrer Analyse der Ethik und dem historischen Abriss der Begriffsgeschichte das Rüstzeug für diese These bereit.

Die Ethik Spinozas will auf drei Grundfragen Antworten geben: Um zu zeigen, (1) wie der Mensch zu Freiheit und Glückseligkeit gelangt, erklärt Spinoza, (2) in welcher Beziehung der Mensch zur Welt steht und (3) wie sein Verhältnis zu einem obersten Prinzip definiert werden kann. Gott ist für Spinoza nicht mehr ein persönlicher Schöpfergott oder ein jenseitiges Wesen. Vielmehr ist Gott oder die Natur in allem, in jedem Einzelding, so auch in uns Menschen. Alles was ist, ist Gott. Die Welt ist eine Erscheinungsweise Gottes, in "Attributen" und "Modi". Der Mensch kann durch Erkenntnis teilhaben an diesen Zusammenhängen: erstens durch seine - allerdings unzuverlässige - Sinneswahrnehmung, zweitens durch den Verstand und drittens durch den "Amor Dei intellectualis", die geistige Liebe zu Gott.

Eine der Pointen der Lehre Spinozas liegt darin, dass er diesen Dreischritt nicht (wie die Philosophie seit Platon) gleichsam als Emporsteigen auf einer Leiter versteht, sondern als Möglichkeit zu größerer Freiheit und Glück, wobei die zurückgelegten Strecken nicht aufgehoben werden können - vielmehr sind und verbleiben sie in uns, sie sind immanent. Dies führt zwangsläufig zur Aufhebung aller Dualismen (wie Leib - Körper, Seele - Geist, Endlichkeit - Unendlichkeit). Neben der minuziösen Affektenlehre ist es diese Denkweise, die Spinozas Ethik so radikal macht - und sie für andere Disziplinen, wie in diesem Fall die Kunstgeschichte, interessant werden lässt.

Hornäk wählt (wie so viele vor ihr) Vermeers Amsterdamer Bild Dienstmagd mit Milchkrug (um 1658-1660) als Ausgangspunkt für ihre Begriffsübertragung. Neben der "Klarheit und Einfachheit [der] Komposition" (212) und der spezifischen Form der Zeitlichkeit, "einer Dauer, die uns das Erleben der Ewigkeit ermöglicht" (228), sind es nach Hornäk die in sich gekehrte Tätigkeit der Magd und das erscheinungshafte Licht, die Immanenz realisieren. Genauso wie Spinozas Gott monistisch in jedem Einzelding ist, sind bei einem Gemälde von Vermeer visuell alle Dinge vollständig miteinander verwoben und lassen sich nicht dualistisch trennen in Form und Inhalt, Gegenstand und Gehalt - leicht lässt sich das im Bild am Fehlen eines eindeutigen Mittelgrundes festmachen. Zudem ist jedes Einzelmotiv untrennbar mit dem Ausschnitt des Gesamtbildes verknüpft und geht in ihm völlig auf. Diese Tatsache lässt sich von der Bildebene auf die Interpretationsebene übertragen: Bei Vermeer macht es keinen Sinn, zwischen Emblemsuche und Formanalyse zu unterscheiden. Es kann deshalb "nur eine Methode geben" (Ethik III, Vorwort). Das Bild kann nur noch mit dem Bild ausgelegt werden, unter Zuhilfenahme außerbildlicher Kriterien.

Es ist nicht der Zweck von Hornäks Kunstexkurs, Bilder von Vermeer zu interpretieren. [5] Etwas irritierend sind daher die 15 Abbildungen im Anhang, obwohl Hornäk nur die Milchmagd ausführlich erläutert und nur wenige Vergleichsbeispiele nennt. Das Verdienst des Buches besteht darin, die Philosophie Spinozas mit dem Begriff der Immanenz für Vermeers Gemälde und deren Interpretation fruchtbar gemacht zu haben - das ist (wie Deleuze es nannte) der schöpferische Moment der Studie für die Kunstgeschichte. Auf philosophischer Seite liegt ihr polemischer Impuls in der Tatsache, die vermeintlich schwierigen Erläuterungen des französischen Philosophen Deleuze überzeugend für die Interpretation der Ethik angewandt zu haben. Darüber hinaus gelingen Hornäk im letzten Teil der Studie die Bildbeschreibungen so gut, dass die "intuitive Erkenntnis", das eigentlich erfinderische und bleibende Moment dieser Arbeit in den Farbbeschreibungen der Gemälde liegt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. das Interview von Arnaud Villani mit Gilles Deleuze in: Martin Stingelin: Das Netzwerk von Gilles Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin 2000, 8.

[2] Es handelt sich um folgende vier Begriffe: Platons Partizipation, Plotins Emanation, Nikolaus von Kues' Doppelrelation complicatio - explicatio und Giordano Brunos Infinitisierung.

[3] Hubertus Schlenke: Vermeer mit Spinoza gesehen, Berlin 1998.

[4] Thierry Greub: Vermeer oder die Inszenierung der Imagination, Petersberg 2004, 58. Dort auch der neueste Stand zur neuen Deutung der Quellen zu Vermeers Leben.

[5] Nur zu Das Mädchen mit dem Weinglas referiert Hornäk aus einem Seminar von Walter Jürgen Hofmann eine neue Interpretation als Darstellung der vier Temperamente.

Thierry Greub