Heidrun Hamersky (Hg.): Gegenansichten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956 - 1989. Mit einem Geleitwort von Václav Havel und einem Essay von Wolfgang Eichwede, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, 196 S., 255 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-373-3, EUR 29,90
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Benjamin Frommer: National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia, Cambridge: Cambridge University Press 2005
So paradox es klingt, in einer Hinsicht haben die kommunistischen Regime Osteuropas ihren Untergang im Zuge der "samtenen Revolution" von 1989/91 überdauert: Ihre wissenschaftliche Erforschung, aber auch ihre gesellschaftliche und politische Aufarbeitung erfolgt primär durch die Brille der seinerzeit allmächtigen Staats- und Parteiapparate, nämlich anhand des von ihnen produzierten Aktenmaterials - darunter nicht zuletzt der Unterlagen der Staatssicherheitsbehörden. Insofern eröffnet der von Heidrun Hamersky herausgegebene Bildband nicht nur "Gegenansichten", sondern auch Gegeneinsichten, die sich aus dem Material der Staatsorgane nicht gewinnen ließen. Und nicht zuletzt darin liegt sein wissenschaftlicher Wert.
Der Band versammelt 255 Fotografien, die zwischen 1956 und 1989 von Dissidenten aus der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und der DDR aufgenommen wurden. Das Material stammt zum Großteil aus den Schatzkammern der Bremer Forschungsstelle Osteuropa. Deren Leiter, Wolfgang Eichwede, hat einen lesenswerten Essay beigesteuert - ein Amalgam aus eigenen Erfahrungen mit den Dissidenten und der Bewertung ihrer Rolle im real existiert-habenden Sozialismus -, der den historischen Kontext der Fotos umreißt. Hinzu kommen eine knappe Einführung von Heidrun Hamersky, in der die Grundlagen und Ziele der Edition näher erläutert werden, sowie ein sehr persönlich gehaltenes Geleitwort von Havel.
Da weder eine chronologische, noch eine geografische Gliederung der Fotografien sinnvoll erschien, hat sich die Herausgeberin für eine sachthematische Anordnung des Materials in sechs Kapiteln entschieden: Das erste befasst sich mit der Inkubationszeit der Dissidentenbewegung, deren zentrale Bezugspunkte der Aufstand in Ungarn von 1956 und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 waren. Der eigentlichen Entstehungsphase in den späten 60er- und 70er-Jahren ist das zweite Kapitel gewidmet, der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność das dritte. Im vierten Abschnitt werden am Beispiel des Einsatzes für Glaubensfreiheit, Minderheiten, Frieden und Naturschutz unterschiedliche Handlungsfelder gesellschaftlicher Initiativen beleuchtet, während der fünfte kulturelle Handlungsräume und Aktionsformen der Dissidenten in den Blick nimmt. Das letzte Kapitel versammelt schließlich Aufnahmen der großen Protestaktionen aus der Zeit des friedlichen Umsturzes von 1989, als die Dissidentenbewegung über Nacht zum Massenphänomen anschwoll.
Die Fotos dokumentieren die Gegenöffentlichkeit, die es - aller Unterdrückungsmaßnahmen zum Trotz - hinter dem 'Eisernen Vorhang' gegeben hat. Sie zeigen die grenzüberschreitende Verflechtung und die starke gegenseitige Beeinflussung der Dissidenten, machen aber auch länderspezifische Unterschiede deutlich. Sie geben Einblicke in den Alltag der Andersdenkenden und sie vermögen - anders als Texte - "das zu verbildlichen, was das Überleben in einem Tag für Tag von Repressionen bedrohten Dasein ermöglichte: die auf Vertrauen und Solidarität beruhenden, zwischenmenschlichen Netzwerke kleiner Gruppen und Interessengemeinschaften." (8) Aus einigen Aufnahmen sprechen Angst und Verzweiflung, aus anderen Optimismus und Lebensfreude - die Bilder wollen keine Helden porträtieren, sie sind keine Stilisierungen, sondern authentische Schnappschüsse von Momenten, die den Beteiligten aus verschiedensten Gründen wichtig gewesen sind.
Nicht zuletzt zeigen die Fotos die Allgegenwart der staatlichen Repressionsorgane und den enormen Druck, der auf den Andersdenkenden lastete. Durch ihre bloße Existenz räumen sie jedoch gleichzeitig mit dem immer noch oft zu hörenden Märchen auf, eine nonkonformistische Haltung sei seinerzeit gar nicht möglich gewesen. Trotz des großen Risikos für die Fotografen und die Fotografierten wurden Bilder gemacht und aufbewahrt; trotz wiederholter Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen gelang es, zahlreiche Aufnahmen vor dem Zugriff der Staatssicherheitsdienste zu bewahren. Insofern sind die Fotos in mehr als einer Hinsicht bewegende Dokumente des Muts der Dissidenten in ihrer Auseinandersetzung mit der hochgerüsteten Staatsmacht.
Wenn auch heute, 16 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft, manche Ziele nicht (oder noch nicht) erreicht werden konnten, für die sich jene Gegenöffentlichkeit stark gemacht hat, eines steht doch fest: Die Dissidenten haben unter schwierigsten Bedingungen und größten persönlichen Risiken einen wesentlichen Beitrag zum Sturz der staatssozialistischen Regime - zumindest zu der gewaltlosen Form, in der er verlief - sowie zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Osteuropa geleistet. Dieser liebevoll gestaltete Band setzt ihnen ein wohlverdientes Denkmal.
Jaromír Balcar