Ulrich Kaiser: Realpolitik oder antibolschewistischer Kreuzzug? Zum Zusammenhang von Rußlandbild und Rußlandpolitik der deutschen Zentrumspartei 1917-1933 (= Kieler Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 7), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 421 S., ISBN 978-3-631-53144-0, EUR 74,50
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Die Vorstellungen, die sich Menschen von anderen Staaten und Nationen machen, können politisch eine erhebliche Bedeutung erlangen: Sie orientieren das Denken und haben Einfluss auf das Handeln. Derartige Fremdbilder sind oftmals eher durch das eigene Selbstverständnis als durch die Erfahrung der fremden Realitäten bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach dem Bild, das die Parteien der Weimarer Republik von der Sowjetunion hatten, äußerst interessant. Denn die wenigsten kannten zu dieser Zeit die Sowjetunion aus eigener Anschauung; sie war in erheblichem Maße Projektionsfläche, in der viele sahen, was sie sehen wollten. Die politischen Parteien, insbesondere die Regierungsparteien, mussten dennoch ein Verhältnis zu ihr finden und außenpolitisch verantwortungsvoll handeln. Mit dieser Problematik beschäftigt sich die kürzlich erschienene Dissertation Ulrich Kaisers über Russlandbild und Russlandpolitik der Zentrumspartei. Die Arbeit hat zum Ziel, "Struktur und Bedingungsfaktoren der Wahrnehmung Russlands (durch die Zentrumspartei( und der hieraus entstehenden Politik gegenüber der Großmacht im Osten Europas [...] (und( gegenüber der bolschewistischen Ideologie" (20) zu analysieren.
Die Studie Kaisers konzentriert sich vor allem auf herausragende Politiker des Zentrums (insbesondere Erzberger, Wirth, Marx und Brüning), deren Positionen anhand von Kabinetts- und Fraktionsprotokollen und von anderen Quellen (vor allem Nachlässe) untersucht werden. Darüber hinaus beschäftigt sich Kaiser mit dem Russlandbild der dem Zentrum nahe stehenden Tagespresse (Germania, Kölnische Volkszeitung und Rhein-Mainische Volkszeitung). Weiter bezieht der Autor auch wichtige Organisationen und Persönlichkeiten des politischen Katholizismus mit ein, die sich im Kampf der katholischen Kirche gegen den Bolschewismus zu Wort gemeldet haben.
Laut Kaiser durchlief die Beurteilung des bolschewistischen Russland durch das Zentrum drei Phasen. An dieser Aufteilung orientiert sich auch die chronologische Gliederung der Arbeit. Während der ersten Phase (Teil B: "Das bolschewistische Russland im Zeichen der Revolution"), die vor allem durch Erzberger geprägt wurde, sahen die Zentrumspolitiker die Bolschewisten als "die äußerste Linke in einer Revolution gemäß dem Muster von 1789" (371). Der Bolschewismus war in dieser Zeit ein Synonym für Anarchie und Chaos, weniger für eine bestimmte Ideologie. Dementsprechend gingen die meisten Zentrumspolitiker davon aus, dass das sowjetische Regime sich nicht auf Dauer halten könne. Während der zweiten Phase (Teil C: "Das bolschewistische Russland im Zeichen der Evolution"), die durch die "Neue Ökonomische Politik" in der Sowjetunion eingeleitet wurde, waren Wirth und Marx die führenden Zentrumspolitiker. Der Bolschewismus stand nun nicht mehr für "radikale kommunistische Experimente, sondern für Reformfähigkeit und Evolution" (371). Die größere Bereitschaft des Zentrums zur Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Russland, durch die in Deutschland als demütigend empfundene Politik der Westmächte noch verstärkt, betraf vor allem den wirtschaftlichen Bereich und kam insbesondere in der Rapallopolitik des Reichskanzlers Wirth zum Ausdruck. Für den dritten Zeitabschnitt (Teil D: "Das bolschewistische Russland im Zeichen der Ideologie") war Brüning die bestimmende Figur. Diese Phase begann 1930 mit dem Aufruf von Papst Pius XI. zu einem "Kreuzzug des Gebets", in dem er die religionsfeindliche Politik der Sowjetunion kritisierte. Diesem Appell folgend sahen Zentrumspolitiker das bolschewistische Russland zunehmend unter ideologischen Gesichtspunkten. Die daraus resultierende Stilisierung der Sowjetunion zu einem "Schreckbild einer technisierten, glaubensfeindlichen und gewalttätigen Moderne" ging mit einer Ablehnung von Liberalismus und Sozialdemokratie einher, die "als atheistische Weltanschauungen für Steigbügelhalter des Bolschewismus gehalten wurden" (372). Dieses Bild des Bolschewismus habe gleichzeitig, so Kaiser, eine fatale Unterschätzung der Gefahr des Nationalsozialismus zur Folge gehabt.
Der Autor wertet in seiner Untersuchung ein äußerst umfangreiches Quellenmaterial aus. Problematisch ist allerdings, dass der extrem detailreiche Text über weite Strecken sehr deskriptiv bleibt. Der Leser steht der Menge an Fakten - deren Analyse ihm häufig selbst überlassen bleibt - teilweise etwas hilflos gegenüber. Vereinzelte Passagen stellen zwar gelungene Synthesen dar (so etwa der Teil über die Haltung einzelner katholischer Geistlicher gegenüber dem Bolschewismus), der Gesamtzusammenhang und der Bezug zum eigentlichen Thema gehen jedoch oft völlig verloren.
Auf inhaltlicher Ebene hat dies zur Folge, dass der im Titel erhobene Anspruch, den Zusammenhang von Russlandbild und Russlandpolitik der deutschen Zentrumspartei zu untersuchen, nur sehr bedingt eingelöst wird. Die Studie behandelt zwar die Russlandpolitik des Zentrums und das Russlandbild des politischen Katholizismus, eine systematische Analyse der Interdependenz beider Faktoren fehlt jedoch. Darüber hinaus geht es in weiten Teilen der Arbeit nicht nur um die Zentrumspartei, sondern vielmehr um den Verbandskatholizismus im Allgemeinen. Die Einstellung des Volksvereins für das katholische Deutschland, des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, einzelner katholischer Geistlicher, der katholischen Arbeitervereine sowie der christlichen Gewerkschaften zur Sowjetunion nimmt in der Studie breiten Raum ein. Gleichzeitig jedoch wird das Verhältnis dieser Organisationen und Personen zur Zentrumspartei (personelle Überschneidungen, institutionelle Abhängigkeiten, wechselseitige Einflüsse) nirgends genauer erläutert.
Diese inhaltliche Unklarheit schlägt sich auch in der Gliederung nieder: Die Teile B und C konzentrieren sich vor allem auf die außenpolitischen Konzeptionen führender Zentrumspolitiker und behandeln das Problem des Russlandbildes lediglich anhand von Einschüben über die Russlandberichterstattung der Germania und der Kölnischen Volkszeitung. Teil D untersucht neben der Politik Brünings gegenüber dem bolschewistischen Russland auch die erwähnten Organisationen des Verbandskatholizismus sowie die katholische Presse und einzelne Gruppierungen innerhalb der Zentrumspartei (Wirtschaftsflügel und Generalsekretariat des Zentrums). Verwirrend für den Leser ist, dass die unterschiedlichen Gruppierungen des Verbandskatholizismus und der Zentrumspartei ohne klar erkennbares Gliederungsprinzip aneinander gereiht werden.
Trotz dieser Mängel ist zu würdigen, dass Kaisers Studie ein originelles und bislang wenig erforschtes Thema behandelt. Selbst wenn die Durchdringung des komplizierten Zusammenhanges zwischen "Perzeption der Sowjetunion und politische[r] Aktion ihr gegenüber" (20) zu oft an der Oberfläche einer Bestandsaufnahme der historischen Fakten bleibt, hat seine Arbeit das Verdienst, umfangreiches Material zugänglich gemacht zu haben.
Eva Oberloskamp