Hans-Jürgen Koch / Hermann Glaser: Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VII + 376 S., 38 Abb., ISBN 978-3-412-13503-4, EUR 26,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Peter Jochen Winters: Markus Wolf. Ein biografisches Porträt, Berlin: Metropol 2021
Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hgg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2018
Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München: Oldenbourg 2003
Mediengeschichte ist en vogue. Davon zeugen zahlreiche neuere Buchveröffentlichungen, Themenhefte von einschlägigen Fachzeitschriften und wissenschaftliche Konferenzen. Im Gegensatz zur älteren Mediengeschichte, die selten von Historikern, sondern vielmehr von Kommunikationswissenschaftlern betrieben wurde und sich in der Regel auf Institutionen- sowie Programmgeschichte beschränkte, werden nun integrative Ansätze verfolgt. Mediengeschichte wird dabei als integraler Bestandteil einer Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte mit dem Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert verstanden. Besonders das 20. Jahrhundert, das "Jahrhundert der Massenmedien" (Axel Schildt), lässt sich ohne die Einbeziehung von mediengeschichtlichen Fragestellungen wohl kaum hinreichend beschreiben. Die modernen Massenmedien durchdrangen sämtliche politischen und gesellschaftlichen Bereiche, prägten und veränderten sie. Dieses gilt im besonderen Maße für die neuen elektronischen Medien - Radio und Fernsehen. Das Radio, dessen erste Sendung am 23. Oktober 1923 über den Äther ging, löste geradezu eine mediale Revolution aus: Millionen von Menschen konnten zeitgleich erreicht werden, die Überwindung von Zeit und Raum war Realität geworden, die Welt kam ins Wohnzimmer, die Grenze zwischen öffentlich und privat wurde fließend, man konnte an politischen, kulturellen und sportlichen Ereignissen partizipieren ohne vor Ort zu sein, sogar live.
Nun haben Hans Jürgen Koch und Hermann Glaser eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland vorgelegt. Hier sind begeisterte Rundfunkpraktiker mit wissenschaftlichem background am Werk, denen das Medium, wie sie im letzten Kapitel des Buches über "Die Zukunft des Radios" explizit hervorheben, bis heute am Herzen liegt. Sie sprechen von einer "Vision eines Kulturradios, einer Radiokultur, die an die Vergangenheit des Mediums anknüpft und diese für die Zukunft aufhebt (bewahrt, überwindet, höher bringt)".
Das Buch wendet sich an ein breites Publikum, was durch Stil und Aufmachung unterstrichen wird: Gut lesbare Texte, reichlich bebildert, der wissenschaftliche Apparat minimiert und ans Ende des Buches verbannt - Wissenschaftler mag das ärgern, den interessierten Laien wird es kaum stören.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut und umfasst in vier Kapiteln die Zeit der Weimarer Republik (Kapitel 1), das "Dritte Reich" (Kapitel 2), die Besatzungszeit (Kapitel 3) und das Geteilte Deutschland (Kapitel 4) mit Unterkapiteln zur Bundesrepublik und DDR. Abgerundet wird der Band mit dem bereits erwähnten 5. Kapitel zur Zukunft des Radios. An jedes Kapitel ist eine ausführliche Zeittafel zur Geschichte des Radios in der jeweiligen Epoche angehängt. Ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister beschließen das Buch. Die Zeittafeln und anderen Serviceleistungen unterstreichen den Charakter des Werkes als eine Art Nachschlagewerk zur Geschichte des Radios auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes mit einem ausgeprägt kulturhistorischen Fokus.
Die Faszination Radio erfasste von Beginn an alle Bevölkerungsschichten. Die Tatsache, dass sich diese Faszination auch in einem ständigen Anstieg der Hörerzahlen manifestierte, der es ermöglichte, immer mehr Menschen durch den Rundfunk zu erreichen, machte das Medium auch für die Politik nicht nur als Informationsmedium, sondern auch als Werbe- und Beeinflussungsinstrument interessant. Obwohl der Rundfunk als Unterhaltungsrundfunk angetreten war, wurde er schon 1932 de facto Staatsrundfunk - und der Einfluss der Präsidialregierungen auf das Medium wurde festgeschrieben. Dieser Umstand machte es den Nationalsozialisten leicht, das Radio gänzlich unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Rundfunk, von Goebbels als das "allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsmittel" bezeichnet, nahm in der NS-Propaganda eine herausragende Stellung ein. Allerdings spielte hierbei, stärker als es der vorliegende Band herausarbeitet, die Unterhaltung eine zentrale Rolle. Im Rahmen leichter Kost wurden den "Volksgenossen" die gewünschten politischen Botschaften eher nebenbei vermittelt. Radio und vor allem Unterhaltung im Radio erhöhte die Bindungskraft des NS-Regimes, inszenierte und aktualisierte die (arische) "Volksgemeinschaft".
Die Autoren konstatieren nach 1945 einen Bruch zur NS-Zeit, der sich nicht nur in einer geänderten Rundfunkpolitik - Rundfunk wurde nun nach dem Vorbild der englischen BBC als öffentlich-rechtliche Institution organisiert -, sondern auch in der Rolle des Mediums als Mittel der re-education-Politik und Demokratisierung manifestierte. Kontinuitäten werden in der Anknüpfung an den kulturellen Bildungsauftrag des Radios in der Weimarer Zeit, der der so genannten "Hochkultur" eine herausragende Stellung im Programm einräumte, gesehen. Dass aber auf dem Gebiet der Unterhaltung starke Kontinuitäten zur NS-Zeit nicht nur im bundesdeutschen, sondern auch im DDR-Rundfunk auszumachen sind, sollte nachdrücklicher betont werden. Denn hier zeigt sich einmal mehr, dass mentale Prägungen und Geschmackspräferenzen nicht mit politischen Zäsuren synchron verlaufen.
Neben dem Aufstieg des Fernsehens, welches seit den Sechzigerjahren die Rolle des Radios als Leitmedium beendete, sehen die Autoren vor allem in der Einführung des dualen Rundfunksystems im Jahr 1984 den "medialen Urknall" der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Auswirkungen der Privatisierung und Kommerzialisierung auf das Medium Radio wird von den Autoren sehr kritisch bewertet.
Wer in die Materie eingearbeitet ist, wird wenig Neues entdecken. Dennoch, es ist nicht nur ein schönes, sondern auch ein nützliches Buch. Eine Gesamtgeschichte des Radios in dieser Form fehlte bis jetzt - im Gegensatz zum Fernsehen. Das Radio ist trotz vieler kassandrischer Rufe noch immer nicht untergegangen, sondern hat vielmehr seine Funktion vom Leit- zum Nebenbeimedium gewechselt. Das Radio hat seinen Platz im Alltag erfolgreich verteidigt: bei den meisten Menschen in Deutschland und anderswo vergeht kein Tag, an dem sie nicht das Radio anschalten!
Daniela Münkel