Ansgar Haller: Die Ausformung von Öffentlichkeit in Danzig im 18. Jahrhundert bis zur zweiten Teilung Polens im Jahre 1793 (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; Bd. 42), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2005, 454 S., 14 Graphiken, ISBN 978-3-8300-1701-1, EUR 118,00
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In einer Zeit, in der eine ständig zunehmende Zahl an Medien immer schneller immer mehr, wenngleich nicht immer umfassender über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses berichtet, ja nicht selten erst mit ihrer Berichterstattung Öffentlichkeit oder gar eine '(ver)öffentlich(t)e Meinung' herstellt, wächst das wissenschaftliche Interesse, die strukturellen Mechanismen und Funktionsweisen der unterschiedlichen Formen von Öffentlichkeit kennen zu lernen. Wie entsteht der vielschichtige Kommunikationsraum der Öffentlichkeit? Und in welcher Wechselbeziehung steht er zur politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit?
Dieses Interesse an der strukturellen Wirkungsweise von Öffentlichkeit sowie an deren facettenreichem Beziehungsgeflecht zu Staat und Gesellschaft beschränkt sich nun freilich keineswegs auf unsere gegenwärtige Mediengesellschaft, in der sich Politik und Politiker vielfach an der Richtschnur der öffentlichen Meinung orientieren, sondern erstreckt sich immer mehr auch auf die Jahrhunderte der Vormoderne, als sich Öffentlichkeit auszuformen und wirkungsmächtig zu werden begann. Öffentlichkeit entstand sicherlich nicht erst im späteren 18. Jh., wie Jürgen Habermas in seiner richtungweisenden Untersuchung "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1971) annimmt, erhielt aber in der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jh. ihre besondere Dynamik - und dies umso mehr in dem vorwiegend bürgerlichen Umfeld einer städtischen Handelsmetropole. Hier setzt Ansgar Haller an und fokussiert seinen Blick auf die "Ausformung von Öffentlichkeit" in der Ostseemetropole und Freien Stadt Danzig.
Ausgehend von einer knappen Begriffsgeschichte entwirft Haller in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas' Konzeption der 'bürgerlichen Öffentlichkeit' (11-18) und auf der Grundlage des von den beiden Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt (1991) vorgestellten dreistufigen Raums der Öffentlichkeit (18-23) das seiner Arbeit zugrundeliegende "integrative Öffentlichkeitsmodell für Danzig im 18. Jahrhundert" (23-30, 455): Auf der Ebene der 'Begegnungsöffentlichkeit' reichen die Kommunikationssysteme vom relativ geschlossenen Salon über Kaffee- und Wirtshäuser bis hin zu frei zugänglichen, aber auf Zufälligkeit beruhenden Kommunikationsstätten wie Straße und Markt. Auf der mittleren Ebene der 'Versammlungsöffentlichkeit' finden sich folgende fünf Bereiche: die auf freiwilligem Beitritt und Statuten beruhenden Vereinigungen (z. B. Geheim-, Gelehrte, Patriotische, Literarische und Lesegesellschaften), kulturelle Veranstaltungen wie Theateraufführungen, Konzerte, Festlichkeiten oder auch Gottesdienste, kollektive Protestformen wie (Gesellen-) Streiks oder Subsistenzproteste und - bereits als "Übergangszone zum staatlichen Bereich" (26) - die 'repräsentative Öffentlichkeit' der Herrschaftsdarstellung durch die Obrigkeit. Auf der oberen Ebene der 'medialen Öffentlichkeit' gibt es die schriftlichen Medien, und zwar die in ihrem Verbreitungsgrad beschränkten geschriebenen Zeitungen, Bücher und die am meisten kursierenden Periodika, seien es ausländische oder inländische - und die für ein breites Publikum zugänglicheren mündlichen Medien wie Predigten, Lieder und Gerüchte. Von diesem dreistufigen Kommunikationsraum der Öffentlichkeit geschieden ist die ebenfalls dreistufige Sphäre der Autorität einer zweifachen Obrigkeit, der innerstädtischen und der auf den polnischen Gesamtstaat bezogenen: auf der unteren Ebene die Kommunikationsräume Rathaus und königlicher Hof, denen auf mittlerer Ebene die ständischen Versammlungen folgen, einerseits die politischen Organe Rat, Gericht und Hundertmänner, also 'Erste', 'Zweite' und 'Dritte Ordnung', andererseits König, Sejm und Landtage, und auf der oberen Ebene der nicht mehr differenzierte Bereich der 'obrigkeitlichen Informationspolitik'.
Anhand dieses systemtheoretischen Modells erörtert der Autor am Beispiel der Stadt Danzig im 18. Jahrhundert (43-68) zum einen die Sphäre der Obrigkeitsautorität (69-89), d. h. im Einzelnen die verfassungsrechtliche Stellung Danzigs innerhalb des Bezugssystems der Adelsrepublik Polen-Litauen sowie die administrativen Strukturen und Kommunikationsprozesse innerhalb der Stadtobrigkeit, zum anderen die drei Ebenen der Begegnungs- (91-102), der Versammlungs- (103-202) und der medialen Öffentlichkeit (203-325).
Der Autor kommt am Ende seiner akribischen und detailliert belegten Untersuchung zu folgenden Ergebnissen (377-387): Der Kommunikationsraum der auf persönlicher Anwesenheit beruhenden Begegnungsöffentlichkeit war staatlichen Eingriffen weitestgehend entzogen und diente insbesondere der Diskussion von Nachrichten und Medien, ohne allerdings den lokalen Rahmen zu sprengen. Im Raum der nach außen abgeschlossenen Versammlungsöffentlichkeit erfolgte eine 'kommunikative Verdichtung' (377), indem Informationen zu Meinungen verarbeitet wurden. Insbesondere Bildungsbürger und Kaufleute versammelten sich in Vereinigungen und Clubs, die auf Grund der gegebenen Diskretion einer allmählichen Politisierung unterlagen, während die Unterschichten sich mittels Protestaktionen öffentlich artikulierten.
Transportmittel der öffentlichen Diskussion waren die verschiedenen Medien- und Kommunikationsformen: zuerst die frei zugänglichen mündlichen Formen des Gerüchts und des Liedes, dann die an ein anonymes Publikum adressierten schriftlichen Medien. Mit der sukzessiven Abnahme religiöser Inhalte in den Medien zugunsten profaner Themen "entwickelte sich allmählich eine aufklärerische schriftliche Diskussionskultur, die seit 1750 durch die 'Leserevolution' entscheidende Impulse erhielt" (391). Es waren insbesondere die Medien, die Gesprächsthemen im Raum der Begegnungs- und Versammlungsöffentlichkeit bestimmten und "aus Themen handlungsrelevante Meinungen werden ließen" (382).
Im politischen Diskurs innerhalb der dreigeteilten Danziger Stadtobrigkeit war es immer wieder die 'Dritte Ordnung', die in der Oppositionsrolle gegenüber Rat und Schöffengericht Debatten in die Öffentlichkeit trug. Nur selten gelang es aber im 18. Jahrhundert tatsächlich, einen 'mehrdimensionalen' Kommunikationsraum politischer Öffentlichkeit herzustellen. Das Ineinandergreifen und komplexe Zusammenwirken der drei grundsätzlich gleichrangig nebeneinander stehenden Öffentlichkeitsebenen und der Obrigkeitsautorität, mithin die "Mechanismen bei der Entstehung von Öffentlichkeit en détail" (33), wird abschließend an zwei Fallbeispielen veranschaulicht: zum einen die international für Aufsehen sorgenden Handelsstreitigkeiten Danzigs mit Preußen in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Polnischen Teilung (327-357) und zum anderen die vorrangig in den lokalen Öffentlichkeitsforen und Medien diskutierte Gründungsgeschichte des Danziger Armenhauses in den Jahren von 1786-1789 (359-376).
Öffentlichkeit war "keine absolute, sondern eine graduelle Größe" mit einem "geschichteten, schalenartigen Aufbau" (383). Die in sich differenzierte Obrigkeit besaß einen deutlichen Informationsvorsprung. Mittels der im 18. Jahrhundert ständig zunehmenden alternativen Kommunikationskanäle verbesserte sich aber der "Grad [..] an Informiertheit in der Bevölkerung" (386) merklich. "Öffentlichkeit entstand im 18. Jahrhundert also nicht neu, sondern sie formte sich aus, veränderte und intensivierte sich" (386). In diesem Transformations- und Übergangsprozess konstituierte sich Öffentlichkeit "nicht mehr von Fall zu Fall, sondern in Permanenz" (386).
Vervollständigt wird die Arbeit durch ein Abkürzungsverzeichnis (389 f.), ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (391-439) und - im Anhang - Angaben zu den "Sozialstrukturen der Danziger Sozietäten" (441-453) sowie vierzehn Statistiken und graphischen Darstellungen zu Einzelaspekten der Thematik (453-468).
Ansgar Haller leistet mit dieser gediegenen Studie, die aus einer an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln eingereichten Dissertation hervorgegangen ist, einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Phänomens der 'Öffentlichkeit' in der Neuzeit. Am Beispiel Danzigs demonstriert er klar und anschaulich die Ausbildung von 'öffentlicher Meinung' und ihre komplexe Wechselbeziehung zum Arkanbereich der Politik, dessen Träger es auch schon damals verstanden, 'Öffentlichkeit' zu instrumentalisieren.
Peter Mainka