Andreas Luther (Hg.): Odyssee-Rezeptionen, Berlin: Verlag Antike 2005, 128 S., ISBN 978-3-938032-05-3, EUR 24,90
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Der schmale Sammelband bietet mehrere Vorträge, die im Oktober 2003 auf einer interdisziplinären Tagung in Berlin mit dem Thema "Die Welt des Odysseus - Geschichte und Fiktion in der homerischen Odyssee" aus der Sicht der Klassischen Archäologie, der Klassischen Philologie, der Ägyptologie, der Indologie, der Didaktik der Alten Sprachen und der Alten Geschichte gehalten wurden.
Lilian Balensiefen deutet in dem einleitenden Vortrag über "Polyphem-Grotten und Skylla-Gewässer: Schauplätze der 'Odyssee' in römischen Villen" (9-31) die Figuren des Polyphem und der Skylla als Verkörperung von unterschiedlichen Naturgewalten, die architektonisch eingebunden waren in gestaltete Räume, sodass dem Betrachter die Überwindung einer fremden vorgeschichtlichen Welt durch die menschliche Ordnung vor Augen geführt wurde.
Ulrich Schmitzer interpretiert in seinem Referat zum Thema "Odysseus - ein griechischer Held im kaiserzeitlichen Rom" (33-35) die Fiktion und Konstruktion der Abstammung Caesars und seines Adoptivsohnes Octavian / Augustus von Venus und Anchises und des Tiberius von Odysseus und Kirke. Er zeigt, wie aus römischer Sicht die Zerstörung Troias als Voraussetzung für den Aufstieg Roms gewertet werden sollte und sich später in der antiken Odysseus-Rezeption unter dem Einfluss des Christentums ein Wandel vollzog, sodass neue Deutungen der homerischen Figur möglich wurden.
Joachim Friedrich Quack stellt die Frage: "Gibt es eine ägyptische Homer-Rezeption?" (55-72). Bemerkenswert ist die Vielfalt der Meinungen über eine Verbindung Homers mit Ägypten. Quack hält es für wahrscheinlich, dass sich indigene ägyptische Gruppen in der intellektuellen Elite ihres Landes für die homerischen Epen interessierten und diese Dichtung als große kulturelle Leistung anerkannten, um hierdurch die Bedeutung ihrer Heimat aufzuwerten.
Im Mittelpunkt der Ausführungen von Angelika Malinar über "Blindheit und Sehen in der Erzählung des Mahābhārata" (73-94) steht eine Analyse der komplexen Erzählstruktur und der Kernprobleme in der Erzählung von einer Familientragödie in einem nordindischen Königshaus. Die Verbindung zu den homerischen Epen ergibt sich nach ihrer These aus dem Topos der Blindheit, die in der großen indischen Dichtung nicht dem Sänger oder Seher, sondern dem König zugeschrieben wird. Malinar erklärt die Form der Positionierung des blinden Herrschers und des Sehers mit dem außergewöhnlichen Sehvermögen, dass nur dem Barden in jenem Epos zugeschrieben wird.
In einem konzisen Referat über das Thema "Eine mythische Gestalt mit pädagogischer Kraft oder nur Odysseus' Sohn? Telemach in der neuzeitlichen Kinder- und Jugendliteratur" (95-108) versucht Stefan Kipf, die Bedeutung einer zeitgemäßen Aufbereitung der Erzählungen und Mythen der Odyssee als eine literarische Erstorientierung für junge Leser aufzuzeigen. Er betont, dass vor allem Telemachos durch sein jugendliches Alter und seine Suche nach eigener Identität für Kinder und Jugendliche als Orientierungshilfe dienen könnte. Seine Skizze der einschlägigen Literatur beginnt mit Fénelons zwischen 1690 und 1695 verfassten "Advantures de Télèmaque" und reicht bis zu Peter Hacks "Prinz Telemach und sein Lehrer Mentor". [1] Dieses Kinderbuch ist freilich eine recht frivole Parodie von Motiven aus der Odyssee und nicht unbedingt eine pädagogische Orientierungsmarke.
Andreas Goltz weist in seinem Beitrag zur "Odyssee-Rezeption im Film "Moralische Normen und Konflikte in Epos und Adaption" (109-124) darauf hin, dass Verfilmungen von Klassikern der Weltliteratur durchaus Aufmerksamkeit erfahren, aber infolge verbreiteter Vorbehalte gegen traditionelle Bildungswerte kommerziell nicht erfolgreich sein und wegen angeblicher oder tatsächlicher Schwächen in der Darbietung des Stoffes auch leicht ins Kreuzfeuer der Kritik geraten können. Er räumt ein, dass auch eine filmische Adaption der Odyssee sich in diesem Spannungsfeld bewegt und zudem sich das Problem der Vermittlung einer fremden Lebenswelt und der aus heutiger Sicht schwer verständlichen Verhaltensweise einer Reihe von epischen Personen stellt. Dies exemplifiziert Goltz vor allem an der Darstellung der Ermordung der Freier und der angeblich "schändlichen" Dienerinnen. Die Verfremdung antiker literarischer Werke wird von Goltz bedauert, aber nach seiner Auffassung aufgewogen durch die Anregungen und Denkanstöße, die hierdurch vermittelt würden. Dies mag partiell zutreffen. Die große Mehrheit der Betrachter hat aber kaum die Möglichkeit, eine Korrektur der durch Film und Fernsehen präsentierten literarischen und historischen Verfälschungen vorzunehmen, zumal die Medien nach ihren eigenen Kriterien die betreffenden Handlungsabläufe und Akteure gewissermaßen aufbereiten.
Das Buch demonstriert, wie der Herausgeber Andreas Luther im Vorwort mit Recht hervorhebt, dass der fachwissenschaftliche Dialog zwischen benachbarten Disziplinen überaus ertragreich sein kann. Die Autoren haben es in exemplarischer Weise verstanden, die Bedeutung und die Probleme der Homer-Rezeption in Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren.
Anmerkung:
[1] Peter Hack: Prinz Telemach und sein Lehrer Mentor, Berlin 1997.
Karl-Wilhelm Welwei