Kilian J. L. Steiner: Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. Die Entwicklung der deutschen Radio- und Fernsehindustrie und das Unternehmen Loewe, 1923-1962, Essen: Klartext 2005, 381 S., ISBN 978-3-89861-492-4, EUR 29,90
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Untersuchungen zur Geschichte unserer modernen technischen Konsumartikel haben in den zurückliegenden Jahren an Zahl zugenommen. Kilian Steiners Arbeit, aus seiner Münchener Dissertation hervorgegangen, akzentuiert, trotz ihres technikgeschichtlich klingenden Titels, in diesem Umfeld aber stärker unternehmenshistorische Aspekte des Themas. Er orientiert seine Geschichte des deutschen Radio- und Fernsehproduzenten Loewe 1923-1962 vor allem an von der anglo-amerikanischen Forschung entwickelten Fragestellungen nach Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen, ja ganzer nationaler Branchen mit vorrangig technologieintensiver Ausrichtung wie der Computer- oder eben der Unterhaltungselektronikherstellung. Steiner versäumt nicht darauf hinzuweisen, dass diese Fragestellungen zum einen in den aktuellen tagespolitischen Standortdebatten, zum anderen aber schon zu Zeiten Adam Smiths im Fokus nicht nur der Wissenschaft, sondern auch von Wirtschaft und Politik stehen und standen.
In enger Anlehnung an die Konzepte von Edith T. Penrose und Alfred D. Chandler spürt Steiner am Fallbeispiel Loewe der Frage nach, ob eine integrierte learning base, ein fortlaufend generiertes technisches, operatives und unternehmerisches Entwicklungspotenzial, bei seinem Akteur vorhanden war. Man hätte sicherlich auch andere Unternehmen der deutschen Rundfunkindustrie als Untersuchungsobjekt wählen können, aber der "Fall Loewe" war aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt auf Grund der besonders dramatisch verlaufenen und damit durchaus spannenden Unternehmensgeschichte ein guter Griff. Schon die untrennbar mit dem Auf und Ab des Konzerns verwobene und deshalb auch immer wieder in die Darstellung eingeflossene Biografie des Firmengründers Siegmund Loewe bietet höchst interessanten Stoff. Tatsächlich scheint es dem ehemaligen Telefunkenmitarbeiter gelungen zu sein, so etwas wie eine learning base in seinem (kleinen) Konzern zu etablieren. Manfred von Ardenne, schon sehr früh von Siegmund Loewe gefördert, und die wegweisende Mehrfachröhre stehen dafür. Mit dem auf der Mehrfachröhre basierenden herausragenden Produkt Ortsempfänger, einem lange vor 1933 als "Volksempfänger" bezeichneten Radioapparat, gelang der Marke Loewe in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre nämlich der Sprung in die Spitzengruppe der deutschen Rundfunkindustrie. Gleichzeitig konnten den großen patenthaltenden Firmen der alten deutschen Funkindustrie, vor allem Telefunken, AEG und Siemens, die durch Austauschverträge auch über internationale Patente verfügten, günstigere Lizenzkonditionen abgetrotzt werden. Diese wirkten sich auch für die anderen zunächst kleineren Firmen und Marken, wie Saba, Blaupunkt, Mende, Nora oder Lumophon sehr positiv aus. Die Basis für die bis in die 1960er-Jahre hinein weltweit mit führende deutsche Unterhaltungselektronikindustrie war somit nicht zuletzt durch Erfolg und Wirkung des Loewe Ortsempfängers gelegt. Allerdings könnte sich der durchschlagende Erfolg und die damit verbundene Fixierung auf die Mehrfachröhren für Loewe selbst auch als Sackgasse erwiesen haben, denn zu Beginn der 1930er-Jahre standen vor allem die oben genannten Markennamen mit ihren Umsatz- und Absatzzahlen an oberster Stelle der Ranglisten im Deutschen Reich.
Ein anderes Problem war die disparate Struktur des Loewe Konzerns, die, ähnlich wie im Fall Telefunken, eine marktnahe Produktpolitik und rationelle Fertigung erschweren konnte. An verschiedenen Standorten wurden nahezu alle zur Herstellung eines Radioapparates benötigten Teile, von Pressgutartikeln bis zu Röhren in nominell eigenständigen Betrieben produziert. Manfred von Ardenne war nicht Angestellter von Loewe, sondern unterhielt ein eigenes Laboratorium, wo er allerdings vornehmlich für Loewe arbeitete. Als Loewe nach 1933 im Zuge der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten unter massiven Druck geriet, setzte ein brain drain, ein Verlust an Wissen und Kompetenz, ein. Steiner nennt dies "Verlust an unternehmerischer und technischer Intelligenz". Er gipfelte schließlich in der Emigration Siegmund Loewes und der 'Arisierung' des Unternehmens. Wie in allen anderen Bereichen, sei es Wissenschaft, Kultur oder Wirtschaft, kam dieser brain drain den Emigrationsländern zugute. Neben Siegmund Loewe ist hier vor allem der wichtige Fernsehentwickler Kurt Schlesinger zu nennen, der in den USA nach 1941 u. a. bei RCA und Motorola tätig wurde. Loewe wurde systematisch aus der Fernsehentwicklung gedrängt (eine Problematik, die sich in Form von Rechtsstreits bis nach 1962, dem Todesjahr Siegmund Loewes, hinzog). Gleichzeitig wurde das Unternehmen stark in die NS-Rüstungsprogramme eingebunden, letztlich übernahm Görings Reichsluftfahrtministerium sogar vollständig das Kommando: Loewe wurde zum Rüstungskonzern der Luftwaffe.
Nach einigen Wiederauferstehungen, sprich Um- bzw. Neuformierungen, nicht zuletzt jene infolge der ebenfalls ausführlich von Steiner behandelten Rückerstattung an Siegmund Loewe, existiert das Unternehmen Loewe heute noch im fränkischen Kronach, als eines der wenigen verbliebenen (zumal traditionsreichen) der Branche in Deutschland.
Kilian Steiner gliedert seine Untersuchung in drei Abschnitte, die etwa der Zeit der Weimarer Republik, des 'Dritten Reiches' und der Zeit von 1945-1962 entsprechen. Innerhalb dieser drei Hauptkapitel befasst er sich zunächst immer mit der allgemeinen Situation der deutschen Unterhaltungselektronikindustrie, um dann zu Loewe zu kommen und seiner spezifischen Fragestellung nachzugehen. So entsteht das vielschichtige und aufschlussreiche Prisma der Geschichte einer Industrie, deren Weltgeltung mit der Bedeutung ihrer core companies verloren ging. Besondere Bedeutung, auch über die Geschichte der Unterhaltungselektronikindustrie Deutschlands hinaus, haben jene Abschnitte der Arbeit, in denen sich Steiner dem Ringen des als "nicht-arisch" gebrandmarkten Unternehmens Loewe im 'Dritten Reich' widmet.
Steiner hat sich die Mühe gemacht, zum Teil weit verstreute Quellen aufzuspüren und zu sichten, ist doch an firmeneigenen Archivalien zum Untersuchungszeitraum in Kronach selbst nur Versprengtes zu finden. Umso erstaunlicher und erfreulicher, dass gerade auch zu dem bislang wenig historisch-wissenschaftlich bearbeiteten Gebiet der Entwicklung der Fernsehtechnik, auf dem Loewe zeitweise maßgeblich führend war, hier nun sowohl Material als auch eine gut lesbare Darstellung und Analyse geboten werden. Dass der Erkenntniswert der Untersuchung im Sinne der gewählten Fragestellung hin und wieder leicht eingeschränkt ist, liegt schlicht darin begründet, dass die Quellenlage nicht dicht genug ist, die vorhandenen Zahlen und auch Aussagen von Zeitgenossen geschönt, gefärbt und lückenhaft sind oder sein können. Jede Untersuchung dieser Art steht vor diesen Problemen. Letztlich muss auch die Frage offen bleiben, ob Loewe die so wichtige integrierte learning base ausgebildet hat. Man muss berechtigte Zweifel daran hegen. Diese werden jedoch durch den Autor selbst deutlich herausgearbeitet.
Abschließend und zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Kilian Steiner eine Untersuchung vorgelegt hat, die mit ihrer konsequent verfolgten Systematik und ihren klar aufgezogenen Handlungssträngen eine anregend informative und dabei noch unterhaltsame, höchst lesenswerte Monografie darstellt. Die epic story der deutschen Rundfunkindustrie ist um ein zentrales Kapitel bereichert.
Ralf Ketterer