Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590-1736) (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 80), Tübingen: Niemeyer 2003, XXXI + 716 S., ISBN 978-3-484-36580-3, EUR 128,00
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Ralph Häfners Habilitationsschrift (FU Berlin, 1998) präsentiert sich als immens gelehrte Studie über zentrale Kapitel frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit. Es geht um nichts weniger als darum, "die paradoxe Konstruktion eines christlichen Humanismus" (575) erstmals umfassend zu bestimmen. Dazu vertieft sich Häfner - mit bislang unerreichter Intensität - in einen verschollenen Kontinent von Quellen, die um die Herausforderungen kreisen, die heidnische Mythen, antike Inspirationsdichtung und pagane sowie apokryphe Orakalliteratur für ein im christlichen Horizont stehendes und zugleich zunehmend philologisch-kritisch geschultes Denken darstellten: Waren die heidnischen Sibyllen, wie in Michelangelos Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle, den Propheten des Alten Testaments an die Seite zu rücken, um sie der christlichen Verkündigung dienstbar zu machen, oder waren sie unter dem Eindruck wachsenden mythengeschichtlichen Wissens auszugrenzen? Ließ sich die christliche Allegorese der mythischen Fabeln, die seit der kirchenväterlichen 'Integrationspolitik' die erfolgversprechende Aneignung fremder Götterlehren bestimmte, bruchlos fortsetzen oder war beispielsweise die christologische Deutung von Vergils vierter Ekloge im Lichte der mit dem Renaissance-Humanismus gewonnenen Erkenntnisse als unsinnig und ahistorisch abzulehnen?
Häfners monumentale Untersuchung belegt eindringlich und eindrucksvoll, dass es auf Fragen diesen Typs in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur keine schlichten Antworten gab. Dass die Entwicklung global in Richtung 'Säkularisierung' und mythenkritischer 'Aufklärung' geht, dürfte insgesamt außer Frage stehen. Doch sind diese Schlagworte einem Blick in die historischen Denkgebäude, der auf größtmögliche Differenzierung zielt, nur wenig hilfreich. Entsprechend perspektiviert Häfner seine Studie nicht teleologisch auf die 'anthropologische Wende' der Geistesgeschichte, sondern auf jenen Punkt hin, an dem sich "zum letzten Mal de[r] Reichtum der frühchristlichen Bildung mit dem Instrumentarium kritischer Philologie durchdrang" (575). Diese Spätphase des christlichen Humanismus, der wesentlich von einer gewaltigen Integrationsleistung gekennzeichnet ist, erkennt Häfner vor allem im Werk des Hamburger Gelehrten Johann Albert Fabricius (1668-1736). Fabricius, dessen Todesjahr den Untersuchungszeitraum zur Moderne hin begrenzt, ist für Häfner nicht nur die Zentralfigur der Hamburger Gelehrten- und Künstlerzirkel des frühen 18. Jahrhunderts. An Fabricius' Werk kann er vor allem demonstrieren, wie die europaweit verflochtenen Denk- und Wissenstraditionen des Humanismus nach 1700 abschließend kulminierten.
Aus der Konzentration auf das Werk eines einzigen Polyhistors resultiert aber keineswegs eine bloß exemplarische oder ausschnitthafte Präsentation des christlichen Humanismus. Im Gegenteil: Indem Häfner aus zeitgenössischen Editionen und Kommentaren, annotierten Handexemplaren und Manuskripten tiefenscharf diejenigen Diskurse rekonstruiert, die bei Fabricius auf ihre spätzeitliche Klimax zulaufen, gelingt es ihm, mit einer 'Leitfigur' durch das Dickicht zu führen und zugleich alle für das Thema wesentlichen Debatten doch eigenwertig darzustellen.
Zu diesem Zweck ordnet Häfner seinen uferlosen Stoff in drei große Hauptabschnitte: Im ersten Teil, der im Wesentlichen synchron organisiert ist und konfessionelle Differenzen innerhalb der Gelehrtenkulturen des 17. Jahrhunderts kenntlich macht, bestimmt Häfner das "Fortleben der orphisch-platonischen Hymnologie im christlichen Humanismus" (1-248). Er widmet sich also der Frage, wie die poetische Inspiration, die man der antiken Hymnendichtung zusprach, im christlichen Horizont bewertet wurde. Ausgangspunkt ist die Poesiologie von Gerhard Johann Vossius - Häfner charakterisiert sie als eklektischen Platonismus, der auf einen bis zur Aporie labilen Ausgleich zwischen christlicher Apologie und philologischer Kritik zielt. Die hier analysierten Binnenspannungen verfolgt Häfner an Lucas Holstenius, der dem römischen Barberini-Kreis angehörte, und an Martin Opitz, der die Leidener Philologie repräsentiert und zugleich die aemulativen Möglichkeiten einer 'wissenschaftlichen Poesie' erprobte.
Der zweite Teil behandelt "Heidnische Prophetien, christliche Weissagungen und heilige Betrügereien" (249-421). In mehreren diachronen Durchläufen erörtert Häfner, in welche religions-, philosophie- und politikgeschichtlichen Kontexte die traditionelle, seit den Kirchenvätern geübte Allegorese heidnischer Orakeldichtung im christlichen Humanismus geriet. Erkennbar wird dabei nicht allein, wie weit der Deutungsspielraum bis ins späte 17. Jahrhundert war: Die jesuitische Verteidigung patristischer Interpretationen begegnet ebenso wie der Vorwurf, die Kirchenväter hätten absichtlich Fehlauslegungen etabliert. Sichtbar wird auch die Reich- und Tragweite, die solche Debatten erzielen konnten - denn mit der Autorität der Kirchenväter musste zugleich die Legitimität des Christentums auf dem Prüfstand stehen.
Im dritten Teil, der den Titel "Poesie und Prophetie: Von ersten und letzten Dingen" trägt (423-575), liegt der Schwerpunkt endgültig auf der Hamburgischen Philologie um 1700. Aufgezeigt wird, auf welchen Vermittlungswegen kabbalistische und chaldäische Überlieferungen in Fabricius' Editionsunternehmen einflossen, in welcher Weise zoroastrische und chiliastische Denkgebäude dort präsent waren und wie sie in Spannung gerieten mit den seinerzeit modernen empirischen Naturwissenschaften. So engagiert wie kenntnisreich - Häfner scheut keine Mühe, die Herkunft von Fabricius' Wissen aus dessen in Kopenhagen aufbewahrten Handexemplaren zu ermitteln - werden die gängigen Erörterungen der Hamburger Physikotheologie (samt ihres bekanntesten Dichters, des Fabricius-Freundes Barthold Heinrich Brockes) revidiert und entscheidenden Differenzierungen zugeführt.
Das Stichwort 'Differenzierung' markiert eine wesentliche Qualität von Häfners Buch: Es zielt nicht darauf, breite Schneisen zu schlagen, sondern zeigt die Verästelungen frühneuzeitlicher Gelehrtengeschichte an einem komplexen, voraussetzungsreichen und denkgeschichtlich bedeutenden Gegenstand in all ihren Nuancen auf. Dass der Arbeit die Übersichtlichkeit reduktionistischer Darstellungen abgeht und dass manche exkursartigen Einschübe die Kapazität des Lesers stark beanspruchen, muss von daher kein kritischer Einwand sein: Die monumentale Integrationsleistung des spätzeitlichen christlichen Humanismus legt die von Häfner geübte integrativ-digressive Darstellungsweise nahe, der es weniger auf griffige Thesen denn auf umfassende Erörterung ankommt. Dass sein Buch solchermaßen nicht leicht als Ganzes zu rezipieren ist, dürfte Häfner kaum entgangen sein: Ein 'analytisches Inhaltsverzeichnis' und ein Index, der neben den Personen auch die behandelten Sachen und Termini verzeichnet, erschließen das Werk auch dem punktuellen Zugriff. Fazit: Eine - in jeder Hinsicht - höchst anspruchsvolle Studie, die der Philologie der Frühen Neuzeit ein Denkmal errichtet und dabei selbst einen philologischen Markstein setzt.
Dieter Martin