Sigrid Wadauer: Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zu 20. Jahrhundert (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft; Bd. 30), Frankfurt/M.: Campus 2005, 418 S., ISBN 978-3-593-37625-7, EUR 45,00
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Sigrid Wadauers Dissertation beginnt mit einer souveränen Übersicht der Probleme, die beim Schreiben über das Schreiben von Handwerksgesellen auftreten. Als was liest man Texte von Angehörigen bildungsferner sozialer Schichten? Als Ausnahmeerscheinung oder Ausdruck einer Mentalität, als Beleg für die Diffusion literarischer Genres oder Zugang zu einem unmittelbaren Volksempfinden, als empirische Quelle für 'wirkliche' Lebensformen, als literarische Überhöhung oder gar Versuch der Normierung?
Die Entscheidung wird dadurch nicht leichter, dass jede Wahl aus jeder der anderen Perspektiven falsch erscheint. Vor Wadauers neuem Untersuchungs- und Lektürevorschlag erfolgt daher ein Durchgang durch bisherige Annäherungen, wobei die Stärken ebenso wenig verschwiegen werden wie die gewichtigen Schwächen. Letztere beginnen bereits mit der sozialen Zuordnung der Texte. Man muss davon ausgehen, dass es eine soziale Formation "Handwerksgesellen" gibt, die sich von "Reisenden", "Jugendlichen", "Vagabunden", "Wanderarbeitern" oder "Auswanderern" abheben, um das kulturelle Milieu der Handwerksgesellen zu rekonstruieren, d. h. man muss praktisch wissen, wie ein wandernder Geselle denkt, um festzustellen, ob ein überlieferter Text der eines Gesellen auf Wanderschaft ist, bevor man ihn dann unter einer anderen Fragestellung analysieren kann. So steht der Zirkelschluss vor der Tür, denn jeder Text von "Handwerksgesellen" weist auch Elemente des "Reiseberichts", des "Bildungsromans", der Schilderung einer "Jugendkultur" auf.
Dazu kommt, dass Handwerksgesellen eine besonders umstrittene soziale Formation darstellen. Im 18. und 19. Jahrhundert, dem Zeitraum, dem Wadauers Interesse gilt, wird ihre Existenz durchaus nicht allgemein anerkannt. Die Rahmenbedingungen des Gesellenwanderns ändern sich durch Gewerbefreiheit, die Abkehr von zünftigen Traditionen in manchen Gewerben und durch manche Personen (etwa Meister, die heiraten, ohne auf Wanderschaft zu gehen, ebenso wie durch Handwerker, die nach Amerika auswandern). Der Status der Handwerksburschen wird von Seiten der Obrigkeit nicht selten in die Nähe der Vagabunden und Bettler gerückt; wohlhabendere Handwerksgesellen unterscheiden sich dagegen kaum von jüngeren Bürgern auf Bildungsreise.
Dieses Problem macht Wadauer zum Thema. Ihr geht es nicht darum, Eigenarten des Wanderns empirisch zu rekonstruieren; das ist in früheren Forschungsprojekten geschehen, und diese Literatur fließt in die Darstellung mit ein. Es geht ihr auch nicht darum, aus den Texten eine Mentalität oder vielleicht einen Diskurs ums Wandern zu rekonstruieren, obgleich sie dies für Männlichkeit und Gesellenwandern beinahe beiläufig ebenfalls tut. Sie fragt vielmehr nach den vieldimensionalen "Räumen", in denen Gesellenwandern konzeptionalisiert werden kann, und somit danach, wie diese Gruppe mobiler Menschen ihre Biographien im Rückblick gestaltet. Die experimentelle Weise, in der das geschieht, wird zugleich als Vorschlag einer Methode zur empirischen Untersuchung autobiographischer Texte angeboten.
Wadauers "Experiment" basiert auf einer statistisch gestützten Analyse von 43 autobiographischen Texten, die zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert entstanden sind. Diese Texte wurden anhand eines dichten Fragerasters gelesen und numerisch codiert. Zum Teil handelte es sich dabei um Fragen, die mit Zahlen zu beantworten waren (etwa Dauer der Wanderung, Zahl der Anstellungen), zum Teil wurden qualitativen Antworten numerische Werte zugewiesen. Dieses numerische Profil der Texte bildete die Grundlage einer Analyse von Korrelationen zwischen ihnen (durch multiple Korrespondenzanalyse), welche sowohl den einzelnen Charakteristika wie auch den Texten insgesamt einen Ort in einem mathematischen Raum zuwies. Interpretierbar wurde dieser Raum dann als eine Anordnung der Texte auf verschiedenen Achsen: etwa zwischen der Wanderung als "[h]ohe Schule des ordentlichen Handwerkers" oder "Gesellenabenteuer", "Tourismus" oder "Anfahrt" (107). Die Ergebnisse dieses Teils der Untersuchung werden durch vier - nicht eben leicht zu entschlüsselnde - Grafiken abgebildet, welche die empirische Basis einer extensiven Interpretation bilden: Die mathematische Analyse zeigt Dimensionen auf, entlang derer sich die Inhalte der Texte gruppieren. Der Hauptteil der Arbeit besteht in der ausführlichen und angenehm lesbaren Interpretation dieser empirischen Ergebnisse am konkreten (Text-)Objekt.
Die Interpretation untersucht erstens die Dimension "Raum", zweitens die Dimension "Reisen". Bei der Dimension "Raum" geht es um Haltungen zu handwerklichem Wandern als hoher Schule des Handwerks und Praktiken, die dies gefährden: Betteln etwa, der Bruch von Handwerksbräuchen durch Obrigkeit, Arbeitgeber, andere Gesellen oder die Schreibenden selbst. Dabei geht es - auch - um die Frage von Autonomie und Fremdbestimmtheit, etwa dann, wenn die Wanderung zur bloßen "Anfahrt", also zur Zuwanderung, wird.
Die Dimension "Reisen" setzt das Wandern in Beziehung zur Bildungsreise - entweder in positiver oder in negativer Hinsicht. Die "zweidimensionale" Analyse beider Dimensionen führt Wadauer schließlich in verschiedenen Reisetypen zusammen: der (dominanten) hohen Schule des Handwerkers, der kritisch-desaströsen Tour, dem Gesellenabenteuer und der skeptischen Tour.
Wadauer konstatiert in ihrem Resümee erstens, dass diese Deutungsmöglichkeiten über den von ihr untersuchten sehr langen Zeitraum bemerkenswert konstant bleiben; handwerkliches Wandern erscheint immer und in ähnlicher Weise umstritten. Zweitens macht Wadauer deutlich, dass die Gruppe der Handwerksgesellen auf Wanderschaft im Zuge der Wanderschaft durch symbolische Praktiken immer wieder neu konstituiert wird, so dass ihre Grenzen variabel bleiben. Drittens: Die Gesellenmobilität entsteht - wie andere Formen der Migration auch - durch eine Mischung aus ökonomischen und symbolischen Logiken, derer man sich individuell wie kollektiv immer wieder aufs neue versichert, indem man sie beschreibt, reflektiert und kommuniziert.
Die Arbeit Wadauers lässt sich auf zwei Ebenen lesen: Die auf hohem Niveau geschriebene Interpretation von Handwerkerautobiographien nimmt eine neue Lektüre von in ihrer Mehrheit bekannten und häufig benutzten Texten vor und kann auch als Synthese der kulturellen "neuen Handwerksgeschichte" benutzt werden. Die zweite, (noch) interessantere Ebene ist das methodisch-inhaltliche Experiment zur Deutung von autobiographischen Texten, das nach Meinung dieses Rezensenten vollauf gelungen ist. So oder so wird kaum ein Weg an Wadauers Studie vorbeiführen, wenn man sich für Handwerksgeschichte oder Ego-Dokumente interessiert.
Andreas Fahrmeir