Mischa Meier: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 147), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 739 S., ISBN 978-3-525-25246-8, EUR 112,00
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Wer sich nicht bereits von der Monumentalität des Werkes (ca. 740 Seiten) abschrecken lässt, dem wird in Mischa Meiers Habilitationsschrift "Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr." anregende Lektüre widerfahren. Seine mentalitätsgeschichtliche Fragestellung fokussiert auf Katastrophen und deren Bewältigung, bringt eine neue Dimension in unser Verständnis der Zeit Justinians und bietet damit einen für das 6. Jahrhundert viel versprechenden Ansatz. Mischa Meier arbeitet Brüche beziehungsweise Einschnitte in der langen Regierungszeit Justinians (527-565) heraus und verweist zu Recht darauf, dass Entwicklungen, denen Forscher das Label "byzantinisch" verpassten, durchaus schon in Justinians Regierungszeit aufkamen und nicht erst in nachjustinianischer Zeit.
Der Autor beginnt sein Buch mit methodischen Überlegungen und der Zielsetzung, als wesentliches Charakteristikum des Zeitalters Justinians die Reaktionen auf Katastrophen herauszuarbeiten, während das vermeintliche justinianische Restaurationsprogramm als weniger bedeutend angesehen wird (25). Der Religiosität misst Mischa Meier dabei einen exzeptionell hohen Stellenwert bei, wobei er Religion als rein funktionelles System von Erklärungs-, Deutungs- und Orientierungsmustern verstanden wissen will (31).
Im zweiten Kapitel setzt er sich mit eschatologischen und apokalyptischen Vorstellungen heidnischer und christlicher Autoren auseinander, zu denen es zum Teil zwar schon Vorarbeiten gibt, aber Mischa Meier macht autorenübergreifend auf vorhandene Weltuntergangsängste in der zeitgenössischen Literatur aufmerksam. Ein repräsentativer Überblick und eine Analyse fehlten bisher; allerdings bleibt auch seine Quellenbasis selektiv, da er unter anderen die in die Hunderte gehenden Briefe und Homilien des Severus von Antiochia (512-518/538) beiseite lässt. Unter diesem Gesichtspunkt muss seine These von der allgemeinen Verunsicherung der oströmischen Bevölkerung (92) in ihrer Universalität fraglich bleiben, und es ist weiteren Untersuchungen vorbehalten, diese zu untermauern oder zu modifizieren.
Mischa Meiers umfangreiches drittes Kapitel wendet sich der Regierung Justinians, dessen Religiosität und den Einschnitten und Veränderungen während der Herrschaftszeit zu (101-341). Er spricht von einer optimistischen Aufbruchstimmung, die in den Jahren 527-540 geherrscht hatte, die aber dann (vor allem durch die Pest ca. 540-542) von einer zweiten Phase des allgemeinen Niedergangs abgelöst wurde. Ihm zufolge besaß Justinian eine außergewöhnliche Religiosität, die sich wie ein roter Faden durch dessen ganze Herrschaftszeit ziehe, eine Interpretation, die den Rezensenten nicht überzeugt. Die (Selbst-)Darstellung des Kaisers in der Öffentlichkeit kann kaum als alleiniger Maßstab für Frömmigkeit dienen oder auf Justinians "spezifisches Selbstverständnis als Beauftragter Gottes" (206) schließen lassen. Der Frage, ob die religiösen Momente der Selbstrepräsentation genuin waren oder aber deklamatorischen Charakter hatten beziehungsweise politischen Zwecken dienten, geht der Autor nicht weiter nach. Vor allem unterschätzt er die Kompromissbereitschaft Justinians in religiösen Belangen, wenn er auf gerade einmal acht Seiten mit einer den soteriologisch-liturgischen Charakter der theopaschitischen Formel verkennenden und den Sachverhalt stark vereinfachenden Argumentation patristische Standarderkenntnisse von der theopaschitischen Formel als Versöhnungsformel vom Tisch wischt (215-223). Nicht einzuleuchten vermag auch sein Insistieren auf der traditionellen Vorstellung vom Theologen auf dem Kaiserthron: Er postuliert zwar, dass die unter dem Namen Justinians überlieferten theologischen Schriften den Kaiser einwandfrei als Theologen zeigen würden (279 f.), aber analysiert hat er das nicht - im Gegensatz zu Jeffrey MacDonald, der schon 1995 den unter dem Namen Justinians überlieferten Schriften ein "lack of interest in theological originality" bescheinigte und darauf aufmerksam machte, dass "Justinian's authorship of these works should be understood as coordinating or endorsing the collection and composition done by a large staff rather than as his personally researching and writing the texts of these works". [1] Unter diesen Gesichtspunkten beginnt Mischa Meiers Aussage, dass Justinian "sein persönliches Bekenntnis der gesamten Reichsbevölkerung aufzuzwingen" (206) versuchte, schnell zu bröckeln.
Im vierten Kapitel nimmt er eine Analyse der Reaktionen und Bewältigungsstrategien der Bevölkerung vor (342-426), die er an einzelnen Episoden dingfest zu machen versucht. Auch wenn die Popularität der Heiligenleben sicherlich gegen seine These von der Machtlosigkeit der Heiligen im Allgemeinen spricht, stellt er hier zu Recht das Versagen staatlicher Schutzfunktionen heraus.
In seiner "Synthese" (427-641) zieht der Autor nicht nur die Konsequenzen aus seinen bisherigen Ausführungen, sondern blickt auch über das ("andere") Zeitalter Justinians hinaus. Wichtige Aspekte sind nicht nur die Kaiserkritik, ein Thema, an dem sich schon viele namhafte Byzantinisten versucht haben, sondern vor allem auch der Wandel in den religiösen Ausdrucksformen, der nach Mischa Meier schon unter Justinian und nicht erst später, in "byzantinischer" Zeit einsetzte. Hier ist vor allem das verstärkte Prozessionswesen zu nennen, das allerdings auch schon vor Justinian eine Blütezeit erlebte, wie auch im Besonderen die verstärkte Marienverehrung, der er zu Recht eine besondere Stellung einräumt. Seine Ausführungen zum Bilderkult können sicherlich von Byzantinisten für weitere Studien aufgegriffen werden.
Formal gilt anzumerken, dass Mischa Meiers außergewöhnliche Belesenheit und Gelehrtheit zwar vorbildlich ist, aber auch hier gilt: "weniger ist mehr": Ein deutlich gekürztes "anderes" Zeitalter hätte die Lesbarkeit erhöht. Es ist sein Verdienst, das Thema "Justinian" mit einer anregenden Fragestellung angegangen zu haben, und er hebt sich damit von den konventionellen Darstellungen zu Justinian aus den letzten Jahren ab. [2] Seine Fokussierung auf Katastrophen mag in ihrer Allgemeinheit als Erklärungsmuster simplifizierend anmuten, aber sie bietet doch eine wertvolle Ergänzung zu bisherigen Studien. Hervorzuheben ist seine Sensibilität für byzantinische Frömmigkeit im 6. Jahrhundert, ein Thema, das zwar seit Kurzem im In- und Ausland thematisiert wird, aber noch in den Kinderschuhen steckt. Auf der anderen Seite überrascht seine Unbedarftheit in kirchengeschichtlichen Aspekten, und diese bleiben ein Schwachpunkt in seinem Werk, unter anderem auch unter dem Gesichtspunkt, dass Justinians Frau Theodora im "anderen Zeitalter Justinians" praktisch keine Rolle zu spielen scheint. [3] Für eine umfassende und schlüssige Darstellung von Justinian und seiner Zeit greift Mischa Meiers Darstellung zu kurz, aber das soll seine Leistung nicht schmälern. Seine zum Teil treffenden Einzelbeobachtungen empfehlen das Werk jedem Wissenschaftler, der sich in Zukunft mit Justinian und seiner Zeit beschäftigen wird.
Anmerkungen:
[1] Jeffrey MacDonald: The Christological works of Justinian, PhD Thesis Catholic University of America 1995, 342.
[2] John Moorhead: Justinian, London / New York 1992; James A.S. Evans: The Age of Justinian. The Circumstances of Imperial Power, London / New York 1996; Otto Mazal: Justinian I. und seine Zeit. Geschichte und Kultur des Byzantinischen Reiches im 6. Jahrhundert, Köln / Wien 2001.
[3] Theodora wäre nicht nur unter religions- oder kirchengeschichtlichen Aspekten eine Erwähnung wert gewesen, sondern auch in Bezug auf Einschnitte in der Regierungszeit Justinians: Bedeutete der Tod Theodoras 548 nicht auch einen tiefen Einschnitt für Justinian, unter Umständen sogar mehr als die von Mischa Meier zu Recht hervorgehobene Pest 541/2?
Volker Lorenz Menze