Rezension über:

Annette Tietenberg: Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005, 248 S., 24 Abb., ISBN 978-3-496-01322-8, EUR 49,00
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Rezension von:
Kerstin Skrobanek
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Kerstin Skrobanek: Rezension von: Annette Tietenberg: Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/7777.html


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Annette Tietenberg: Konstruktionen des Weiblichen

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Eva Hesse gelang als junger Frau Mitte der 1960er-Jahre der Durchbruch auf dem New-Yorker Kunstmarkt. Sie schuf Objekte, die sich durch ihre biomorphe Anmutung stark von der vorherrschenden Minimal Art abzuheben schienen. Ihr kometenhafter Aufstieg, ihre Jugend, ihr reizendes Aussehen, ihre jüdische Herkunft und vor allem ihr früher Tod im Alter von 30 Jahren - auf dem Gipfel ihres Erfolges - prädestinierten sie von Anfang an, eine Projektionsfläche für diverse Wünsche und Ideologien zu werden. Vor allem nach der Veröffentlichung ihrer Tagebücher Anfang der 70er-Jahre konzentrierten sich Kritiker und Kunsthistoriker primär auf ihre Biografie einschließlich sämtlicher eventuell vorhandener Traumata. Ein neutraler Blick auf die Werke der Künstlerin, eine Analyse allein unter formalen und materialästhetischen Gesichtspunkten wurde unmöglich. Die konservative [1] und auch die im Entstehen begriffene feministische Kunstkritik instrumentalisierten Eva Hesse für ihre Zwecke. Das vorliegende Buch von Annette Tietenberg zeigt, welche Motive die Kunsthistoriker und Kritiker hatten, Hesses Werk als ein spezifisch weibliches vorzuführen, und wie weit diese Behauptung von den Kunstwerken entfernt ist.

Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gesamte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu Hesse erschienene Literatur einer erneuten, kritischen Lektüre zu unterziehen. Es ist ihr gelungen, ein enormes Konvolut an Texten so gut zu strukturieren, dass die unterschiedlichen Problematiken des Umgangs mit dem Werk klar hervortreten. Tietenberg gelingt es, den Mythos Eva Hesse zu dekonstruieren und den Blick auf die Arbeiten der Künstlerin wieder frei zu machen.

Im ersten Kapitel wird der methodische Zugriff erläutert. Für ihren rezeptionsästhetischen Ansatz beruft Tietenberg sich auf den Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß. Wichtig für ihre Herangehensweise ist dessen Feststellung, dass sich eine literarische Tradition nicht selbst tradiert, sondern von einem speziellen Interesse, einer neuen Rezeption in die Gegenwart geholt wird. Rezeption bedeutet folglich mehr als "das passive Empfangen einer vorformulierten Botschaft" (18), die es zu entschlüsseln gilt. Ferner trennt Jauß präzise zwischen Wirkung und Rezeption eines Textes. Die Wirkung ist der vom Text bedingte, die Rezeption der vom Adressaten abhängige Teil der Traditionsbildung. Mit diesem 'Werkzeug' kann sich Tietenberg dem Mythos Eva Hesse nähern, indem sie zwischen der ästhetischen Wirkung von Hesses Arbeiten und den zahlreichen Deutungen, die Leben und Werk Hesses durch die Interpretationen ganz unterschiedlich motivierter Autoren erfahren haben, unterscheidet. Tietenberg konzentriert sich auf die Diskursanalyse und gibt nur kurze Anregungen zur Werkbetrachtung. Ausführliche Werkanalysen kommen nicht vor.

Der Hauptteil des Buches besteht aus acht Kapiteln, die die in der Hesse-Literatur genannten Gegensatzpaare aufgreifen und damit zugleich Themenbereiche behandeln, die speziell in Bezug auf Künstlerinnen immer wieder diskutiert werden: "Biografik und Stilistik", "Serielles und Anthropomorphes", "Hässliches und Schönes", "Emotion und Intellekt", "Material und Metaphorik", "Psychologisches und Erotisches", "Tragisches und Komisches", "Innovation und Intuition".

Tietenberg kann zeigen, wie sich die von ihr herausgefilterten Begriffspaare im Laufe der Rezeptionsgeschichte zu Stereotypen verfestigten, an denen sowohl die konservative (z. B. Robert Pincus-Witten) als auch die feministische Forschung eisern festhielten. Vor allem an der feministischen Forschung (Lippard, Nemser, Spector) kritisiert die Autorin zurecht, dass nicht die Zuschreibung von Attributen wie intuitiv, emotional, naturverbunden und körperorientiert als typisch weiblich kritisiert wird, sondern dass vielmehr die eingespielten Begriffspaare unreflektiert übernommen und die vermeintlich "weiblichen" Merkmale moralisch aufgewertet werden.

In fast allen Kapiteln des Hauptteils wird deutlich, dass die konservative und die feministische Forschung die gleichen Argumente benutzen, nur unter verschiedenen Vorzeichen. So bescheinigen die Autoren Hesse, im Kontrast zu ihren männlichen Kollegen, eine intuitive Herangehensweise. "Von konservativer Seite wird Eva Hesse als konzeptlos arbeitende Künstlerin vorgestellt, die qua Geschlecht über große 'Naturnähe' verfügt, ohne kunsttheoretischen Hintergrund auskommt und sich ganz auf ihre Intuition verlässt" (188). Für Nancy Spector dagegen ist intuitives Schaffen die Garantie für Originalität und Authentizität. Das intuitive Arbeiten der jungen Künstlerin wird kontrastiert mit den starren, rationalistischen Prinzipien der Minimal Art, die es zu widerlegen gilt. Aus der 'schwachen Konzeptlosigkeit' einer Künstlerin macht die feministische Forschung eine Waffe im Kampf gegen eine dominierende, von Männern geprägte Kunstrichtung.

Tietenberg zeigt, dass es das Ziel der konservativen und auch der feministischen Kritik war, einen Widerpart zur Minimal Art zu finden, weshalb Gegenständlichkeit und Emotionalität in das Werk Hesses hineingelesen wurden. Man wollte der literalness der Minimal Art etwas entgegen setzen und eine neue Kunstrichtung, die emotional, körperlich, voller Bezüge und mit hohem Interpretationspotenzial ist, entdecken.

Im Kapitel "Blinde Flecken" schlägt Tietenberg eine neue Betrachtung der Kunstwerke vor. Nur so könne man stereotype Begrifflichkeiten überwinden, von der Biografiefixiertheit loskommen und sich der ästhetischen Qualität der Arbeiten Eva Hesses nähern. Tietenberg fordert zudem eine intensivere Auseinandersetzung mit Wiederholung und Serialität, Phänomene, die wegen der Abgrenzung zur Minimal Art bisher immer ausgeblendet wurden, in vielen Werken aber ganz offenbar eine wichtige Rolle spielen. Auch hinsichtlich der Kontextualisierung des Oeuvres empfiehlt Tietenberg einen erneuten Vergleich mit der Minimal Art. Ein solcher könnte gerade in Bezug auf die Wahrnehmung und Rolle des Rezipienten wichtige Hinweise darauf geben, dass Hesse sehr wohl in die ästhetischen Debatten ihrer Zeit eingebunden war. Auch die von der Künstlerin beabsichtigte Veränderbarkeit vieler Objekte sollte einmal durch das ganze Werk hindurch verfolgt werden. Interessant ist auch die Frage, inwiefern die häufig sehr lautmalerischen und anspielungsreichen Titel den Arbeiten eine zusätzliche Dimension verleihen.

Sekundär hingegen scheinen Tietenbergs auf die künstlerische Praxis und berufliche Cleverness Hesses zielenden Fragen. Da die Künstlerin an der klassischen Autorschaft festhielt und eine übliche Atelierpraxis mit einer gewissen Zahl an Assistenten pflegte, wird man mit der Frage, welchen Einfluss die Mitarbeit anderer auf die Objekte hatte, vermutlich nicht weit kommen. Noch spekulativer scheinen Tietenbergs Überlegungen zur Art und Weise, in der Hesse sich auf dem Kunstmarkt zu bewegen wusste, und die Frage, ob ihre jüdische Herkunft dabei ein Vorteil war.

Im letzten Kapitel, "Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts", kontextualisiert Tietenberg ihre Ergebnisse in der bisher zum Thema Künstlermythen erschienenen Literatur und konkretisiert mit Blick auf die Forschung das Erzählmuster des Mythos Eva Hesse. Viele der von ihr herausgearbeiteten Aspekte sieht sie bestätigt, wie z. B. die Konstruktion des Künstlermythos aus stereotypen biografischen Formeln [2], die Verklärung der Künstlerpersönlichkeit und die Orientierung an antiken Mythen und Bibelgeschichten in Bezug auf die Erzählstruktur des Mythos. [3] So wird auch der Mythos Hesse aus stereotypen Formeln konstruiert: Autorinnen wie Lippard orientieren sich beim Verfassen von Monografien am klassischen Erzählmuster der Heldengeschichte, und Hesse wird vor allem von der feministischen Forschung zu einer Heldin ("shero") und Pionierin stilisiert, die sich nicht nur als Künstlerin in einer männlich dominierten Kunstwelt durchsetzte, sondern allgemein die 'weiblichen' Werte hochhielt und das 'männliche' Weltbild niederrang.

Wie Anja Zimmermann [4] so zeigt auch Tietenberg, dass in der feministischen Forschung die Dekonstruktion etablierter Mythen oft mit einem eigenen Wahrheitsanspruch einhergeht, was dazu führt, dass dem 'falschen Männlichkeitsmythos' ein 'wahrer Weiblichkeitsmythos' entgegengesetzt wird. Der Künstlerinnenmythos, das zeigt auch der Fall Eva Hesse, erzählt von der Superiorität weiblicher Differenz.

Eine so klar strukturierte und sorgfältig recherchierte Arbeit hätte ein besseres Lektorat verdient.


Anmerkungen:

[1] 'Konservative Kritik' ausschließlich als Gegensatz zu feministischer Kritik.

[2] Vgl. Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1980 (Erstveröffentlichung Wien 1934).

[3] Vgl. Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main 1986.

[4] Anja Zimmermann: Mythos en abyme. Konstruktion und Dekonstruktion von Mythen in der Rezeption von Cindy Sherman, in: Kathrin Hoffmann-Curtius / Silke Wenk (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, 90-100.

Kerstin Skrobanek