Keith G. Walker: Archaic Eretria. A political and social history from the earliest times to 490 BC, London / New York: Routledge 2004, XVII + 348 S., 4 maps, 9 tables, 56 fig., ISBN 978-0-415-28552-0, GBP 65,00
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Die Polis Eretria auf Euboia besaß ihre größte Bedeutung in archaischer Zeit. Ihre Entwicklung von den Anfängen bis 490 v. Chr. wird von Walker erstmals im Zusammenhang mit der Entstehung und Konsolidierung der hellenischen Staatenwelt bis zu den Perserkriegen dargestellt.
In der Einführung (1-25) skizziert Walker die Geografie Euboias. Er verdeutlicht, dass die geografischen Verhältnisse keine günstigen Voraussetzungen für die Konstituierung einer politischen Einheit auf der Insel boten.
Im zweiten Kapitel (26-72) erläutert er Mythen und Kultbräuche der Inselbewohner. Von besonderem Interesse sind hier seine Ausführungen zur frühen Siedlungsgeschichte. Er datiert die "Ankunft der Griechen" auf den Beginn der Phase Späthelladisch I (um 1600) und verweist dazu auf die erste Verwendung des Streitwagens und die beachtliche Körpergröße der Repräsentanten der Schachtgräberdynastie von Mykene. Die griechische Ethnogenese hat sich indes offensichtlich in einem sehr langen Integrationsprozess vollzogen, der bereits im späten Frühhelladikum begann. Zudem lassen neue Formen in der Gestaltung der Keramik nicht unbedingt auf einen Wechsel der Bevölkerung oder der Herrscher schließen. Gleichwohl nimmt Walker an, dass in Lefkandi mykenische Keramik "an invasion of Theban Mycenaeans" indiziere (48). Aufgrund der homerischen Beschreibung des Status des Elephenor im Schiffskatalog der Ilias (2,536-545) kommt er zu dem Schluss, dass eine kleinere Gruppe von Abantes nach Lefkandi gelangte, die von dort aus die Hegemonie auf Euboia gewinnen konnten (52). Der Schiffskatalog bietet freilich keine Aufschlüsse über Herrschaftsstrukturen, die ein halbes Jahrtausend vor der schriftlichen Fixierung bestimmter Vorstellungen von mykenischen Siedlungsverhältnissen entstanden sind.
Im Zentrum des dritten Kapitels (73-89), in dem die Entwicklung von 1050 bis 750 skizziert wird, steht die spektakuläre Aufdeckung des berühmten 'Heroengrabes' in Lefkandi, in dem eine junge Frau und ein Krieger bestattet waren, der in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts über bedeutende Ressourcen verfügte. Die Anlage befand sich unter einem 45 m langen Bau, der mit einem gewaltigen Grabhügel überdeckt war. Walker vermutet (83), dass Lefkandi, das antike Xeropolis, damals die bedeutendste Siedlung in Griechenland war. Dies ist freilich eine kühne Hypothese. Irreführend ist zudem Walkers Klassifizierung der 'Herren von Lefkandi' als "feudal rulers". Die Zerstörung ihres Sitzes, die etwa um 825 zu datieren ist, führt Walker auf einen feindlichen Angriff zurück. Die meisten Bewohner seien damals nach Eretria geflohen. Dort hätten sie in einem bereits bewohnten Gelände eine neue Siedlung errichtet, die um 700 ebenso wie die inzwischen stark reduzierte Siedlung in Lefkandi zerstört worden sei (92).
Den Aufstieg des "neuen Eretria" behandelt Walker im vierten Kapitel (90-140). Katalysator der dortigen Polisbildung war nach seiner Auffassung bereits die Abwanderung von Emigranten aus Lefkandi nach Eretria um 825. Durch deren Aktivitäten sei langfristig "a commercial oligarchy" entstanden (116). Gleichwohl hätten ihre Nachfahren die Ideale der alten Grundbesitzerschicht bewahrt. Die Klassifizierung der frühen Polisordnung in Eretria als "Handelsoligarchie" ist indes problematisch. Walker orientiert sich hier an der Terminologie einer erst im 5. Jahrhundert entstandenen Verfassungstypologie. Verblüffend ist hier aber auch sein Verweis auf den Zusatz zur großen Rhetra in Sparta (Plutarch, Lykurgos 6). Er will hiermit seine weitere These stützen, dass die Volksversammlung in Eretria in archaischer Zeit einen Verlust an Kompetenzen hinnehmen musste.
Recht ausführlich erörtert er in den folgenden Kapiteln (141-206) die Geschichte Eretrias im 7. und frühen 6. Jahrhundert. Schwerpunkte bilden hier die kolonisatorischen Aktivitäten der Eretrier im Westen und der Lelantische Krieg. Walker nimmt pointiert Stellung zu der alten so genannten Jahrhundertdebatte über 'primitivistische' und 'modernistische' Elemente in antiken Wirtschaftssystemen, indem er bestreitet, dass griechische 'Aristokraten' großes Interesse am Außen- und Seehandel hatten.
Eine neue Epoche in der Geschichte Eretrias lässt Walker um 546 beginnen, nachdem Peisistratos dort Zuflucht gesucht hatte. Die Polis soll nach Walkers These in der Folgezeit geradezu panhellenische Bedeutung gewonnen haben. Er vermutet sogar eine Thalassokratie der Eretrier. Als 'Beweis' führt er eine fragmentarische Inschrift (Inscriptiones Graecae XII 9, 1273.1274) an, die Regelungen zur Erhebung von Abgaben für das Passieren des Seegebietes zwischen Kap Kenaion im Norden und den Petalischen Inseln im Süden enthält. Dies ist freilich eine fragliche Basis für seine These von einer Thalassokratie Eretrias.
Die 'Oligarchie der Hippeis' in Eretria soll nach Aristoteles (Politika 1306a 31-36) Diagoras beseitigt haben, der in der dominierenden Schicht wegen einer nicht standesgemäßen Heirat keine Anerkennung gefunden habe. Obwohl keine weiteren Nachrichten hierzu vorliegen, ist Walker überzeugt (207-235), dass Diagoras etwa von 538 bis 509 eine tyrannische Macht in Eretria ausübte. Walker konstruiert ein Netz von politischen Verbindungen des Diagoras, unter dessen Herrschaft eine Schicht von Theten erstarkt sei, sodass nach seinem Sturz eine Demokratie nach dem Paradigma der kleisthenischen Reformen entstehen konnte (236-269). Durch Kleisthenes wurde aber in Athen keine Demokratie konstituiert, und der von Walker angeführte Beleg, dass in einem frühen Proxeniedekret (Inscriptiones Graecae XII, Supplement 539) "Rat und Volk" als beschließende Organe in Eretria bezeugt sind, ist kein stichhaltiges Argument. Die Formel besagt lediglich, dass die genannten Institutionen Entscheidungsorgane waren. Jedenfalls erübrigen sich alle weiteren Kombinationen Walkers, wonach eine 'Demokratie' in Eretria in der Zeit nach den Reformen des Kleisthenes eine Hegemonie in Mittelgriechenland ausgeübt haben soll, wie er im Schlusskapitel ausführt (270-280).
Dass Eretria während des Ionischen Aufstandes ein kleines Schiffskontingent nach Kleinasien schickte, führt Walker vor allem auf alte Verbindungen Eretrias mit Milet zurück. Nachdem Aristagoras in Milet "seine Macht auf eine Demokratie übertragen" habe, hätten sich die nunmehr mächtigen Eretrier dem Hilfegesuch nicht versagen können (273). Walker beruft sich hier auf Herodot (5,99). Derartige Motive erwähnt Herodot aber nicht, und dessen Notiz (5,37,2), Aristagoras habe in Milet die Isonomia eingeführt, bedeutet nicht, dass es sich um eine Demokratie handelte.
Das Buch ist reich an Informationen. Walker hat das gesamte relevante Quellenmaterial zur Geschichte und Sozialstruktur Eretrias herangezogen. Er verblüfft den Leser aber durch eine Reihe von Kombinationen, die nach dem archäologischen Befund und nach der vorliegenden historiografischen Überlieferung nicht gerechtfertigt sind.
Karl-Wilhelm Welwei