Rezension über:

Wolfgang Strohmayer: Das Lehrwerk des Matthäus Roriczer, Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag 2004, 111 S., 106 s/w-Abb., 157 s/w-Zeichnungen, ISBN 978-3-87646-104-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Stefan Holzer
Institut für Mathematik und Bauinformatik, Universität der Bundeswehr München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Holzer: Rezension von: Wolfgang Strohmayer: Das Lehrwerk des Matthäus Roriczer, Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/10507.html


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Wolfgang Strohmayer: Das Lehrwerk des Matthäus Roriczer

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1965 erschien im gleichen Verlag die von Ferdinand Geldner besorgte, vorbildliche Faksimileausgabe [1] (mit Übersetzung ins moderne Deutsch) der erstmals in den 1480er-Jahren gedruckten drei offenkundig eng zusammengehörigen kleinen Werkchen des in Nürnberg, später in Regensburg, tätigen Steinmetzmeisters Matthäus Roriczer, die unter den modernen Titeln "Fialenbüchlein" und "Geometria Deutsch" bekannt geworden sind. Nun legt der Verlag im Nachgang zum Neudruck der Geldnerschen Faksimileausgabe (1999) eine Abhandlung von Wolfgang Strohmayer zu diesem "Lehrwerk" vor.

Ziel Strohmayers ist nach seiner eigenen Formulierung "die Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Substanz" (13) des Roriczerschen Werks. Schon beim ersten Durchblättern des Buches fällt auf, dass erst in Anmerkung 33 (44) auf die grundlegende Studie verwiesen wird, die Lon R. Shelby [2] schon 1977 zu Roriczers und Schmuttermayers Steinmetzbüchlein vorgelegt hat, und dass Strohmayer sogleich eine Oppositionshaltung gegen diese Studie einnimmt ("Neubewertung des Traktats", "gegensätzliche Haltung zur bisherigen Einschätzung durch die Wissenschaft", 44).

Worin besteht nun die von Strohmayer avisierte "Neubewertung"? Der prätentiöse sprachliche Duktus macht es zunächst gar nicht einfach zu verstehen, was Strohmayer eigentlich will und worin seine Gegenposition zur bisherigen Einschätzung Roriczers überhaupt bestehen soll. Jedenfalls geht Strohmayer von der Prämisse aus, dass aus Roriczers Zeichnungen mehr "verborgen gebliebene Kenntnisse" (20) und "inhaltliche Substanz" (20) abzulesen seien als aus dem zugehörigen Text. Strohmayers Hauptaugenmerk gilt zunächst der "Vierung über Ort", mit der Roriczers Fialenbüchlein beginnt. Aus den Figuren werden elementarste Seitenlängenverhältnisse abgelesen. Da bei den übereck ineinander geschachtelten Quadraten, aus denen die "Vierung über Ort" besteht, der Faktor "Quadratwurzel aus 2" vorkommt, kann es den auch nur mit einem Minimum an mathematischen Kenntnissen ausgestatteten Leser nicht überraschen, dass bei mindestens drei solcherart rekursiv ineinander gesetzten Quadraten wieder einfache ganzzahlige Verhältnisse zwischen den Abmessungen der Einzelelemente der Figur auftreten (das dritte Quadrat hat gerade die halbe Seitenlänge des Ersten). Strohmayer verfolgt nun in geradezu ermüdender Wiederholung in allen Figuren Roriczers das Auftreten solcher ganzzahligen Verhältnisse. Bei der Geometria Deutsch wird dieses Streben abgelöst durch die Suche nach möglichen Ergänzungen der Roriczerschen Figuren zu Quadraten oder gleichseitigen Dreiecken.

Das alles beginnt den unvoreingenommenen Leser doch recht schnell an die Konstruktion geometrischer Proportionsfiguren zu erinnern, deren mangelnde wissenschaftliche Absicherung er spätestens seit Konrad Hechts fulminanter Studie zu Maß und Zahl in der gotischen Baukunst [3] entlarvt glaubte. Mit den auf die Romantik zurückgehenden Proportionsfigurenzeichnern hat Strohmayer gemeinsam, dass gerade die Kernargumente seiner "Lesung" der Zeichnungen Roriczers erst von ihm selbst ergänzt werden, ohne dass dafür der Text oder die Abbildungen Roriczers eine Notwendigkeit erkennen lassen. Strohmayer selbst entwertet seine eigene Methode, wenn er (35) bekennt: "Die auf weite Strecken belangvolle mathematische Substanz des 'Fialenbüchleins' wird allerdings durch die Texte nicht einmal angedeutet und in den Zeichnungen auf Anhieb nur gelegentlich sichtbar". Aus dem, was da zurecht gemacht bzw. nach Wunsch ergänzt wird, wird dann gefolgert, dass "zumindest in einigen Zeichnungen weit mehr Kenntnisse vermittelt worden sind, als die zugehörigen Texte preisgeben" (60). Strohmayer behauptet, die Zeichnungen Roriczers bedürften "eines geübten Blicks für mathematische Zusammenhänge, um das hochwertige Hintergrundwissen auf Anhieb wahrnehmen zu können" (60). Von dieser Spekulation ist der Schritt nicht mehr weit zum mystisch dunklen "Steinmetzgeheimnis" (suggeriert auf Seite 65), das nach Strohmayers Meinung in der Anwendung der ganzzahligen Proportionen liegen soll (Strohmayers Fazit, seltsamerweise wie ein Zitat gekennzeichnet, 108: "Schaffung, Erhaltung und Bestätigung von ganzzahligen Werten im Rahmen der Gegebenheiten einer geometrischen Figur, im vorliegenden Fall der 'Vierung über Ort' und unterstützt durch die daraus sich ergebenden elementaren Teilungen").

Angesichts des von Strohmayer ermüdend oft wiederholten Hinweises auf den angeblichen mathematischen Gehalt des Büchleins verwundert es, wie leichtfertig er andererseits unbestreitbar mathematisch wertvolle und interessante Inhalte gerade der Geometria Deutsch hinwegwischt: Den sieben Aufgaben der Geometria wird pauschal "fragwürdige inhaltliche Substanz" (18) zugeschrieben! Hinzu gesellen sich grobe inhaltliche Fehler und groteske Fehleinschätzungen: "... wären nur drei von den insgesamt sieben Konstruktionsbeispielen als mathematisch exakt einzustufen, wohingegen der grössere Teil ... sich als blosse Näherungen präsentierte, deren Wert ... angesichts der meist nur groben Näherungen zweifelhaft erscheinen mag" (45). Näherungen passen nicht in Strohmayers ideologisch vorbelastete Sichtweise. Die bestechende Analyse von Cord Meckseper [4] zu den mittelalterlichen Fünfeckkonstruktionen beleuchtet hingegen gerade den besonderen Wert der Näherung Roriczers: "Praktische Verfahren können aber auch geometrische Näherungslösungen sein, wenn sie gegenüber der exakten Lösung arbeitstechnische Vereinfachungen bringen. Dies ist z. B. bei denjenigen Lösungen der Fall, die mit 'unverrücktem Zirkel', d. h. mit gleich bleibender Zirkelöffnung arbeiten" [4] (37). Hinzuzufügen wäre, dass die Roriczersche Näherung mit dem "unverrucktem Zirkel" alles andere als "grob" ist. Sie hat gegenüber den exakten Lösungen überdies den herausragenden Vorteil, dass sie von einer in Lage und Länge vorgegebenen Fünfeckseite ausgeht, während sich bei der bekannten, erstmals 1525 von Dürer veröffentlichten exakten Lösung die Länge der Fünfeckseite aus dem Radius des umbeschriebenen Kreises ergibt und somit also nicht frei gewählt werden kann. Für die Praxis ist es durchaus belangvoll, ob man die Fünfeckseite vorgeben kann oder erst am Ende der Konstruktion erhält!

Es bleibt zusammenfassend festzustellen, dass Strohmayer zur faszinierenden Geschichte der gotischen Steinmetzgeometrie keine neue Substanz beiträgt und dass seine "Neubewertung" methodisch auf sehr wackeligen Beinen steht. Schade, dass der Verlag Pressler für einen Kommentar zur Faksimileausgabe, der manchem Leser Hilfe böte, keinen solider arbeitenden Wissenschaftler gewinnen konnte.


Anmerkungen:

[1] Matthäus Roriczer: Das Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit. Faksimile der Originalausgabe Regensburg 148. Matthäus Roriczer: Die Geometria deutsch. Faksimile der Originalausgabe Regensburg um 1487/88. Mit einem Nachwort und Textübertragung herausgegeben von Ferdinand Geldner, Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag 1965, Nachdruck 1999.

[2] Lon R. Shelby: Gothic design techniques. The fifteenth-century design booklets of Mathes Roriczer and Hanns Schmuttermayer. Edited, translated and introduced by Lon R. Shelby, Carbondale: Southern Illinois University Press, 1977.

[3] Konrad Hecht: Maß und Zahl in der gotischen Baukunst. 3 Teile in 1 Band, Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1979 (Neudruck der zunächst in den Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft Band 21 (1969), 22 (1970) und 23 (1971) erschienenen Studie).

[4] Meckseper, Cord: Über die Fünfeckkonstruktion bei Villard de Honnecourt und im späten Mittelalter, in: Architectura (München) 13, 1983, 31-40.

Stefan Holzer