Gisela Weiß: Sinnstiftung in der Provinz. Westfälische Museen im Kaiserreich (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 49), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005, X + 598 S., ISBN 978-3-506-71781-8, EUR 54,00
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Die Autorin will in ihrer für den Druck aktualisierten Dissertation nach der "Funktion des Museums als zentralem Medium der bürgerlichen Selbstvergewisserung und als Segment im Prozess der Modernisierung" (IX) fragen. Hierbei knüpft sie konzeptionell an die seit einigen Jahrzehnten intensivierte Forschung über Bürgertum und Modernität im 19. Jahrhundert an: Wenn das Bürgertum Hauptträger der musealen Initiativen in dieser Epoche war, so ihre Untersuchungshypothese, so müsse sich dies auch in der Auswahl der Gegenstände der Erinnerung, ihrer visualisierten Interpretation und dramaturgischen Aufbereitung im Museum und daher letztlich auch in der inhaltlichen Spezifik der kulturellen Sinnvermittlung widerspiegeln (8).
Die Autorin sieht durchaus den möglichen Widerspruch zwischen einer dem Bürgertum zugeschriebenen rationalen Fortschrittsgläubigkeit und der musealen Sammler- und Bewahrertätigkeit, die ja eher eine rückwärts gewandte oder zumindest konservativ mentale Grundhaltung vermuten lässt. In Anknüpfung an Hermann Lübbe sieht sie jedoch Fortschrittlichkeit und Museumsgründungen nicht als Paradoxon, sondern in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Mit einem derartigen primär soziokulturell akzentuierten Forschungsansatz sollen die vorliegenden, überwiegend institutionengeschichtlich ausgerichteten Darstellungen der westfälischen Museen ergänzt werden. Ihre Untersuchung konzentriert die Autorin auf vier Museen in Münster, Dortmund, Bielefeld und Witten, weil diese hinsichtlich territorialer Vergangenheit, Industrialisierungsgrad und sozioökonomischer Zusammensetzung ein jeweils anderes Mischungsverhältnis aufweisen, aber auch auf Grund der dort vorfindlichen guten Quellenlage.
Im ersten Kapitel weist die Autorin hinsichtlich der Gründungsmotive und Entwicklungsschwerpunkte der Museen in den vier Städten ein breites Spektrum an Voraussetzungen, Akteuren und Konzeptionen nach. Dabei wird deutlich, dass durchweg kunst- und kulturhistorische Schwerpunkte entstanden, dagegen naturwissenschaftliche oder kunstgewerbliche eher gefordert und angedacht als realisiert wurden. Es dominiert der Rettungsgedanke, der ja nicht von vornherein spezifisch bürgerliches Bewusstsein repräsentiert, sondern eben so gut Ausfluss einer romantisierenden, die vormoderne Vergangenheit verklärende Abwehrhaltung gegen die bürgerliche Modernität sein kann. Zentraler Gegenstand des zweiten Kapitels ist der Personenkreis, der die Museumsarbeit konkret bestimmte. Dabei wird der Übergang von dilettierenden Lehrern zu fachlich vorgebildeten Experten als Teil des gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesses verstanden.
Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, in welcher Weise gerade der für das 19. Jahrhundert typische Anspruch der Museen, pädagogischer Ort für eine breite Öffentlichkeit zu sein, realisiert wurde. Im vierten Kapitel wird dann genauer analysiert, worin der eigentliche Inhalt einer kollektiven Sinnvermittlung durch Museen bestehen sollte, wobei die Abgrenzung lokaler von regionalen oder nationalen Identitäten im Mittelpunkt steht. Grundlage der Darstellung sind hauptsächlich die Aktenbestände der Museen beziehungsweise ihrer Trägervereine oder kommunalen Träger. Bei den gedruckten Quellen nehmen Museumskataloge, Berichte der Trägervereine und andere schwer zugängliche Titel der "grauen" Literatur einen erheblichen Anteil ein. In ihrer Zusammenfassung stellt die Autorin ihre Ausgangshypothese, die Museen der Kaiserzeit seien Instrumente "bürgerlicher Sinnstiftung" gewesen, nicht grundsätzlich in Frage (343), differenziert sie aber in vielen Aspekten auf Grund des zuvor dargestellten Quellenmaterials.
An den Darstellungsteil schließt sich ein detaillierter Katalog der Museumsanfänge in Westfalen (bis 1918) an, dessen Literaturangaben zusammengefasst eine Bibliografie zur westfälischen Museumsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bilden. Weitere Anhänge beinhalten Kurzbiografien des Museumspersonals in Bielefeld, Dortmund, Münster und Witten sowie für die drei letztgenannten Städte eine Übersicht über durchgeführte Ausstellungen, schließlich statistisches Material unter anderem über Mitgliederzahlen der Trägervereine, Finanzen und Besucherzahlen der im Darstellungsteil ausführlicher beschriebenen Museen. Zusammen genommen verleihen sie der Publikation den Charakter eines Handbuches zur westfälischen Museumsgeschichte.
Eine besondere Qualität der Publikation liegt sicherlich in der Breite und Tiefe, mit der die überwiegend unverzeichneten Aktenbestände im Hinblick auf die Untersuchungsfrage ausgewertet wurden. Dies ermöglicht die Zeichnung eines facettenreichen Bildes, das eine Vielzahl konkurrierender Konzeptionen und deren jeweilige Protagonisten anschaulich vor Augen führt. Immer wieder wird die Darstellung der vier im Mittelpunkt stehenden Museen kontrastiert mit der Entwicklung anderer westfälischer oder außerwestfälischer Museen.
Problematisch mag erscheinen, dass die Begriffe "Bürgertum" beziehungsweise "bürgerlich", die im gesamten Untersuchungszusammenhang von zentraler Bedeutung sind, ohne wirkliche analytische Trennschärfe verwendet werden. Am deutlichsten wird dies etwa, wenn hinsichtlich des sozialen Umfeldes der Münsteraner Museumsgründung konstatiert wird, in der "bürgerliche(n) Oberschicht Münsters" seien "hohe Verwaltungsbeamte, Akademiker und auch der Adel" stark vertreten gewesen (334). Hier klingt ein Verständnis von "Bürgertum" an, das sich an formaljuristischen Kriterien orientiert oder sich dem modernen Begriff einer "Bürgergesellschaft" nähert, der realen sozialen und mentalen Situation des Kaiserreiches aber kaum gerecht wird.
Gerade das in den Kapiteln 1 und 4 des Buches breit entfaltete Material macht ja immer wieder deutlich, dass sich Repräsentanten des industriellen Bürgertums oft genug mit eigenen Vorschlägen (oder mit Geld) in die Diskussion von Museumskonzepten einmischten, die dessen Interessenlage und Selbstverständnis in spezifischer Weise widerspiegeln (etwa: kunstgewerbliche Abteilungen, naturwissenschaftlich-technische Museen). Umgekehrt: Kann angenommen werden, dass das Bewahren von alten Bauernhäusern, adeligen Interieurs und Objekten der mittelalterlichen Sakralkunst Bestandteil einer typisch bürgerlichen Geisteshaltung ist? Wenn man allerdings das Bewahren an sich bereits als typisch bürgerliche Handlungsweise interpretiert und auch höhere preußische Beamte und Vertreter des Adels gedanklich in das Bürgertum inkorporiert, kann in der Tat kein Ausstellungskonzept oder Sammlungsschwerpunkt mehr "unbürgerlich" sein. Hätte es nicht nahe gelegen, die Entwicklung der Museumslandschaft in Westfalen schlicht und einfach als das Ergebnis von Kompromissen zwischen vielen verschiedenen Interessengruppen und Mentalitätslagen im Kaiserreich zu verstehen, an der neben anderen Gruppen auch das Bürgertum beteiligt war?
Lothar Kurz