Rezension über:

Antoni Mączak: Ungleiche Freundschaft. Klientelsysteme in der Geschichte (= Klio in Polen; 7), Osnabrück: fibre Verlag 2005, 485 S., ISBN 978-3-929759-92-1, EUR 37,80
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Rezension von:
Wolfgang Reinhard
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Reinhard: Rezension von: Antoni Mączak: Ungleiche Freundschaft. Klientelsysteme in der Geschichte, Osnabrück: fibre Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/9798.html


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Antoni Mączak: Ungleiche Freundschaft

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Alles europäische Getöse ändert nichts daran, dass die Sprachkenntnisse zurückgehen und die Geschichtswissenschaften thematisch immer nationalbornierter werden. Insofern ist es häufig möglich, ausländische Veröffentlichungen ohne Verlust zu ignorieren. Wenn aber eine Ausnahmeerscheinung wie der im besten Sinne des Wortes weltläufige Altmeister der polnischen Frühneuzeithistoriographie Antoni Mączak, der 2003 tödlich verunglückt ist, die Summe eines seiner großen europäischen Themen in polnischer Sprache veröffentlicht, wäre unsereiner hilflos, wenn nicht das DHI Warschau relativ zügig für eine deutsche Übersetzung gesorgt hätte. Sie macht insgesamt einen zuverlässigen Eindruck. Man muss allerdings nicht Polnisch können, um "Minister" als Fehlübersetzung zu identifizieren, wo es "Prediger" heißen müsste.

Nach 1970 drang die Erforschung von neuzeitlichen Patronage-Klientel-Beziehungen aus der Anthropologie allmählich in die Geschichtswissenschaft vor, wie üblich besonders langsam in Deutschland. Die einflussreichen Arbeiten von Roland Mousnier und Sharon Kettering erschienen 1972 und 1986, die des Rezensenten 1979. Mączak hat daraufhin 1988 einen mehrsprachigen Sammelband über Klientelsysteme im frühneuzeitlichen Europa veröffentlicht, der rasch zu einem Standardwerk geworden ist. Darauf folgte sein Buch "Klientel. Informelle Herrschaftssysteme in Polen und Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert" in polnischer Sprache, das leider im vorliegenden Band nur teilweise wieder aufgegriffen wird; die dortigen Kapitel über Spanien und Italien sind damit für uns "verloren". Außerdem lässt Mączak im vorliegenden Band nicht nur die Kunstpatronage beiseite, die in der Tat einen Sonderfall darstellen dürfte, sondern leider auch die kirchlichen Klientelsysteme, denen der Rezensent nach jahrzehntelanger Forschung durchaus einen Zusammenhang mit den weltlichen bescheinigen möchte.

Das neue Buch ist vom Verfasser als eine Art Groß-Essay konzipiert, der bisweilen in der ersten Person geschrieben ist und sehr persönliche Auffassungen ungescheut wiedergibt. Denn sein Interesse oszilliert zwischen der Geschichte und dem nachkommunistischen Polen der Gegenwart, wobei das Risiko des Anachronismus bewusst in Kauf genommen wird. Über die Geschichte des Klientelwesens und seiner Erforschung in den verschiedensten Ländern dürfte allerdings niemand einen so souveränen Überblick gehabt haben wie der Autor.

Das erste Kapitel ist der Terminologie, das zweite der Theorie gewidmet, wobei Mączak mit beiden kritisch umspringt. Mancherorts scheint ihm das Thema immer noch tabubesetzt zu sein, anderwärts transportiert bereits die Terminologie bestimmte Deutungen, vor allem das lange dominierende Konzept der "fidélité" nach Roland Mousnier. Bei dessen Diskussion scheut sich Mączak nicht, die häufig verschwiegenen Gegensätze zwischen der Mousnier- und der Braudel-Schule sowie zwischen der französischen und angelsächsischen Forschung deutlich beim Namen zu nennen. Auch aus seiner Abneigung gegen sozialwissenschaftlichen Slang macht er kein Hehl, obwohl er selbst auch vor allzu starker Bündigkeit scheut. Doch sein Titel hat genau diesen Charakter, wenn er in zwei Wörtern das allgemeine Wesen der Sache zur Sprache bringt und dabei für inhaltliche Varianten offen bleibt.

Anschließend geht es um den Ausdruck von Abhängigkeitsverhältnissen durch Gesten, ein Ausschnitt aus der Anthropologie des Klientelwesens. Mączak beginnt mit dem "politischen" Kuss der Antike und des Mittelalters, behandelt entsprechende symbolische Abhängigkeitsgesten unter polnischen Adeligen und bei der Mafia und endet mit dem sozialistischen Bruderkuss der Funktionäre des ehemaligen Ostblocks. Auch die anschließenden knappen Ausführungen zur römischen Klientel weisen Zusammenhänge mit der späteren Geschichte auf. Denn nicht nur in Polen griff man auf den römischen Klientenjargon zurück, auch die Monopolisierung der Patronage durch den Kaiser bzw. deren Wiederauflösung in der Spätantike kehren als Probleme im werdenden modernen Staat wieder, von dem anschließend die Rede ist, allerdings in Auswahl. Mączak setzt sich mit Biagiolis Galileibuch auseinander, behandelt den späten Tudor- und frühen Stuarthof (letzteren ohne das einschlägige Buch von Ronald Asch von 1994 zu kennen), die Bedeutung der formalisierten schottischen Bonds of manrent sowie knapp die französische und die schwedische Monarchie. Bei der anschließenden Schilderung der Klientelbeziehungen im polnischen Adel des Ancien Régime ist Mączak in seinem Element, vor allem auch, weil er den zeitgenössischen polnischen Politikstil als Karikatur dieses "Sarmatismus" denunzieren möchte (210).

Auch im anschließenden Kapitel über den mediterranen Raum und besonders Süditalien und Sizilien ist viel von der Transformation von Abhängigkeiten in der Moderne bis hin zur Mafia die Rede, vom Unterschied zwischen Korruption und Klientelismus, die als verschiedene Formen der Privatisierung der öffentlichen Sphäre bei knappen Ressourcen doch eine bedeutende Schnittmenge aufweisen. Das wird auch an einem Ausblick auf das postkoloniale Afrika demonstriert. Bei der viktorianischen Gentlemen-Patronage spielt ebenso wie beim Verhältnis von Klientel und politischen Parteien, etwa in Italien und in den USA, das Moment der geringeren Stabilität von Abhängigkeit eine ausschlaggebende Rolle. In der Sowjetunion scheint ihm Klientelismus eher eine nachstalinistische Erscheinung zu sein, denn jener Diktator hielt zwar die Fiktion einer persönlichen Schutzbeziehung zu jedem Bürger aufrecht, aber diese Beziehung war in Wirklichkeit extrem risikoreich und instabil. Auch im nachkolonialen Afrika kann der Begriffsapparat des europäischen Klientelwesens in die Irre führen, wenn damit kulturell ganz andersartige Phänomene bezeichnet werden. Deshalb hält Mączak Callaghys Analogie zwischen dem Herrschaftssystem Mobutus in Zaïre und demjenigen Ludwigs XIV. für überzogen. Nach einem kurzen Ausblick auf Thailand wird noch das lateinamerikanische Patenschaftssystem (compadrazgo) erörtert, das auf Patronage hinauslaufen kann, aber nicht muss - abermals eine Schnittmenge.

Abschließend weist Mączak zunächst darauf hin, dass in der Antike und in der heutigen Weltpolitik auch Klientelbeziehungen zwischen Staaten eine große Rolle spielen, wobei sich die Vorteile für die herrschende Gruppe im Klientenstaat machtstrategisch als ausschlaggebend erweisen. Die passende Stelle, um zum kommunistischen und nachkommunistischen Polen zurückzukehren: Denn "Klientelismus entfaltet sich besonders üppig [...], wenn er das politische und rechtliche Chaos nutzen kann, das in der Regel nach dem Zerfall des Kommunismus entsteht. (Die ehemalige DDR hat das vermieden, da sie in die Strukturen der Bundesrepublik eingegliedert wurde.)"(432).

Da seiner Meinung nach die meisten Leser sowieso nur Einleitung und Schlusswort zur Kenntnis nehmen, betont Mączak am Ende noch einmal, worauf es ihm ankommt: dass die bunten Varianten der "hinkenden Freundschaft" und die Bandbreite der damit verbundenen Emotionen alle theoretischen Definitionen aufbrechen. Die Historiker arbeiten deshalb am besten mit den einfachsten Theorien. Denn der Reiz der Sache liegt in den Ausnahmen, die durch unterschiedliche Rahmenbedingungen und unterschiedliche Intensität der Beziehungen zustande kommen. Deshalb lässt sich auch kein generelles Schema aufstellen außer der allgemeinen Beziehung zwischen Mächtigen und Schwachen, bei der allerdings häufig der Staat in der einen oder anderen Form als Dritter beteiligt ist.

Das Buch mag bisweilen sprunghaft und fragmentarisch argumentieren. Es bietet nichtsdestoweniger einen grandiosen Überblick über ein viel versprechendes Feld internationaler Forschung, der seinesgleichen sucht. Bei der Lektüre begegnet man dem toten Freund, wie er im Leben war, von unersättlicher Neugier und abgründiger Sachkenntnis, dabei egalitär und unprätentiös, manchmal erfrischend unverfroren im Umgang mit Autoritäten und Kollegen. Er hatte nicht seinesgleichen; er fehlt uns!

Wolfgang Reinhard