Rezension über:

Barbara Falk (Bearb.): Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 38), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, 445 S., ISBN 978-3-412-10105-3, EUR 49,90
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Rezension von:
Sebastian Schlegel
Jena
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Schlegel: Rezension von: Barbara Falk (Bearb.): Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/10722.html


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Barbara Falk (Bearb.): Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33

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Die Historikerin Barbara Falk hat mit ihrer Arbeit "Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33" ein überaus problematisches Kapitel sowjetischer Geschichte aufgeschlagen. In den Jahren 1932-34 starben, seriösen Schätzungen zufolge, bis zu sechs Millionen Menschen an den Folgen einer großen Hungersnot, die zu den schrecklichsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählt, in Westeuropa aber bis heute nahezu vergessen ist.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil mit den Kapiteln eins und zwei untersucht die Herausbildung der Lebensmittelrationierung und des Kartensystems in der Sowjetunion während der Jahre 1927 bis 1931. Dabei strebte die sowjetische Ernährungspolitik in der Theorie eine zentral gesteuerte Verteilung der Lebensmittel an, um die Versorgungsfrage zu einer reinen Staatsangelegenheit werden zu lassen und den freien Markt auszuschalten. Es zeigte sich jedoch in der Praxis, dass man diesen Anspruch nur unvollständig einlösen konnte. Ein Listen- und Prioritätensystem ließ "zweitrangige" Städte, Bevölkerungsgruppen und industrielle Sektoren entstehen; zudem lag die Lebensmittelverteilung in den peripheren Gebieten häufig in den Händen lokaler staatlicher Behörden, die die Versorgungsfrage in Eigenregie angingen, ohne dass das Zentrum dirigierend eingegriffen hätte.

Der zweite Teil (Kapitel 3-4) behandelt die Versorgungslage im Gebiet von Char'kov - bis 1934 die Hauptstadt der Ukraine -, das eine der bedeutendsten landwirtschaftlichen Regionen des Landes war. Hier werden sowohl die Praxis der Lebensmittelversorgung detailliert und aufschlussreich geschildert, als auch die Eigenheiten des sowjetischen Rationierungssystems und die beiden Kategorien im Kartensystem - Kartenbesitzer und Kartenlose - einander gegenübergestellt. Etwa 25 Prozent der städtischen Bevölkerung, vor allem Waisen, Alte und Invaliden, hatten kein Recht auf Lebensmittelkarten. Ihr Kampf um Lebensmittel durch Bettelei und Diebstahl verwandelte Char'kov in "eine Stadt im nicht erklärten Ausnahmezustand" (299). Die Zuteilung von Versorgungskarten bedeutete allerdings nicht unbedingt, dass man die entsprechenden Lebensmittel tatsächlich auch erhielt. Das Recht auf Lebensmittel und deren tatsächlicher Bezug waren nicht selten zwei ganz verschiedene Dinge. Das Versagen der Zentralmacht in den Regionen und der aus deren Abwesenheit resultierende Bedeutungszuwachs lokaler Instanzen bedeuteten indes nicht, dass die Peripherien in Versorgungsfragen an Macht gewannen: "Ernährungspolitik wurde in Moskau gemacht", konstatiert Barbara Falk (308). Die in der Forschung viel diskutierte These von der bewussten Auslösung der Hungersnot als Ausdruck antiukrainischer Haltung in Moskau ist nach ihren Befunden nicht haltbar, denn es hungerte die gesamte Sowjetunion, sowohl die Land-, als auch die Stadtbevölkerung. Indizien für eine gesteuerte "Aushungerung" missliebiger Nationalitäten seien dabei nicht nachzuweisen (309-310).

Der dritte Teil besteht aus einem umfangreichen, knapp 100 Seiten starken Dokumententeil, der vor allem statistische Angaben zu Preisniveaus auf sowjetischen Lebensmittelmärkten, Zahlen von Kartenbesitzern und Kartenlosen und Lebensmittelmengen in einzelnen sowjetischen Regionen beinhaltet. Dies ist im Wesentlichen das Material, auf das Barbara Falk ihre Aussagen stützt, mit dem der Leser jedoch ein wenig überfordert wird, da sich die Relevanz bzw. die Aussagekraft der Quellen nicht immer vollständig erschließt.

Die Studie von Barbara Falk ist zweifelsohne das Resultat einer hochakribischen Arbeit. Allein die Mühe, die die Autorin mit ihren Archivrecherchen auf sich genommen hat, ist beeindruckend. Sie präsentiert eine schier unübersehbare Fülle an Details und Hintergründen einer Tragödie, die - wie eingangs erwähnt - nach wie vor im (west)europäischen Bewusstsein kaum Verankerung gefunden hat. Jedoch liegen in dieser Fülle auch die Schwächen der Arbeit. Allzu oft überschätzt Barbara Falk, die "Zahlendokumenten" einen klaren Vorrang vor "impressionistischen Quellen wie Beschwerdebriefen und behördliche Schriftwechsel" (118) einräumt, den Informationswert der von ihr verwendeten Akten. Sicherlich hätte ihre sehr deskriptive, streng chronologisch aufgebaute Arbeit auf den Leser weniger trocken gewirkt, wenn sie den Blick stärker auf einzelne Personenschicksale gelenkt hätte. Zudem hätte sich eine Unterteilung der Kapitel in kürzere Abschnitte ebenso positiv auf die Lesbarkeit ausgewirkt wie eine Reduzierung der häufigen, in Klammern gesetzten Einschübe russischer Originalpassagen.

Sebastian Schlegel