Rezension über:

Cordula Lissner: Den Fluchtweg zurückgehen. Remigration nach Nordrhein und Westfalen 1945-1955 (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 73), Essen: Klartext 2006, 395 S., ISBN 978-3-89861-477-1, EUR 32,00
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Rezension von:
Claus-Dieter Krohn
Fachbereich Kulturwissenschaften, Universität Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Claus-Dieter Krohn: Rezension von: Cordula Lissner: Den Fluchtweg zurückgehen. Remigration nach Nordrhein und Westfalen 1945-1955, Essen: Klartext 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/10369.html


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Cordula Lissner: Den Fluchtweg zurückgehen

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Die Verfasserin hat Recht, wenn sie die Exil- und Remigrationsforschung als Elitenforschung charakterisiert. Das nach 1933 aus dem deutschsprachigen Raum verdrängte Segment der Gesellschaft repräsentierte eine einzigartige Kultur und war damit ohne Beispiel in den neuzeitlichen Migrations- und Fluchtbewegungen Europas. Dementsprechend interessiert in der Remigrationsforschung ebenfalls der Beitrag, den Rückkehrer aus diesem Kreis zum politischen und kulturellen Aufbau Deutschlands nach 1945 geleistet haben oder leisten konnten. Dass angesichts der NS-Rassenpolitik unter den nach 1933 Geflohenen auch zahlreiche Unbekannte, die sogenannten "kleinen Leute" waren, ist unbestritten, aber weniger typisch. Bei ihnen setzt die vorliegende, als Dissertation an der Universität Düsseldorf vorgelegte Studie ein und eröffnet damit einige interessante neue Einsichten. Anstelle der üblichen Forschungsorientierung auf intellektuelle Gruppen oder Berufsfelder mit ihren kulturellen Transferleistungen und Wirkungen richtet sie sich auf einen geografisch begrenzten Raum, für den die Rückkehr jener überwiegend Namenlosen untersucht wird; sie nimmt mehr als 400 Personen in den Blick, die einen repräsentativen Querschnitt aus der Gesamtzahl der Remigration in geschätzter drei- bis vierfacher Höhe darstellen.

Quellen- und Informationsbasis sind vor allem die Entschädigungsakten, die - wie die Verfasserin sagt - erst in Ansätzen ausgewertet sind, sowie die offenbar in den verschiedenen nordrhein-westfälischen Gedenkstätten umfassend gesammelten Interviews mit ehemals Betroffenen. Das gibt der flüssig geschriebenen und übersichtlich gegliederten Arbeit zusätzliche Farbe. Vor dem Auge des Lesers wird ein umfassendes Panorama der Rückkehrbedingungen in das besetzte Deutschland mit ihren komplizierten Genehmigungsverfahren durch die Besatzungsbehörden, den organisierten Hilfen etwa für Partei- und Gewerkschaftsvertreter sowie den Vorbehalten, wenn nicht gar offenen Ressentiments, der "Daheimgebliebenen" den Rückkehrern gegenüber entfaltet. Hierbei vermag die Autorin einige Erkenntnisse der bisherigen Forschung zu korrigieren; im Unterschied zu deren Befunden, dass es keine organisierte Rückkehr gegeben habe, kann sie für ihren regionalen Bereich das Gegenteil nachweisen, wenngleich die Mehrheit dennoch aus individuellen Remigranten bestand.

Die Kapitel über die britische Nachkriegspolitik und die Versuche der Besatzungsmacht, ehemalige Emigranten in der Reeducation und beim Wiederaufbau der Verwaltung einzusetzen, sowie über die komplexe "Wiedergutmachung" der NS-Opfer, neben Restitution und Entschädigung auch die vergeblich erhofften Rückkehrangebote und die permanente Rechtsunsicherheit bei Rückgabe der Staatsangehörigkeit, bringen weniger neue Einsichten. Sie akzentuieren aber die bisherige Forschung, indem an weiteren, häufig alltäglichen Beispielen die Abwehr der Öffentlichkeit gegen die Rückkehrer bestätigt wird. Den originellen Kern der Studie bilden sodann die Kapitel über den Beitrag der Remigranten bei der Reorganisation der Parteien und Gewerkschaften sowie als Multiplikatoren in ausgewählten Berufsfeldern. Deutlich stellt die Autorin heraus, dass es im Bereich der Politik nicht so sehr um die von den Akteuren aus dem Exil - vor allem aus Großbritannien - mitgebrachten zivilgesellschaftlichen Erfahrungen und Impulse bei der Neuordnung ging, die in der Forschung seit einiger Zeit unter dem Stichwort "Westernisierung" der Bundesrepublik diskutiert werden, sondern - neben dem Aufbau der politischen Organisationen - lange Zeit vor allem um Trümmerbeseitigung und die Gestaltung des alltäglichen Lebens auf der kommunalen Ebene. Dabei hätten die Vertreter der KPD einen erheblichen Vorsprung vor denen der SPD gehabt, da sie im Unterschied zu jenen keine Scheu gehabt hätten, unmittelbar nach dem Krieg illegal nach Deutschland zurückzukehren. Mit der Aura der häufig ausgewiesenen ehemaligen Widerstandskämpfer und mit ihrem Kaderbewusstsein sei die KPD sogar bei den Militärbehörden als "best organized party on the ground" (202) angesehen worden. Doch verschwand dieser Nimbus alsbald, zum einen vor dem Hintergrund der wenig attraktiven Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone, zum anderen angesichts des wachsenden Misstrauensklimas innerhalb der Partei, die bereitwillig den stalinistischen Vorgaben bei der Verdächtigung von "Westemigranten" als imperialistischen Agenten folgte.

So interessant und dicht diese Passagen den Wiederaufbau des politischen und kulturellen Lebens beschreiben - für das kleine Feld der konservativen Remigration werden der gescheiterte Versuch des ehemaligen Reichskanzlers Heinrich Brüning und die Carl Spieckers, ebenfalls aus der Zentrumspartei, genannt -, bleibt gleichwohl die Frage nach der historiografischen Bedeutung dieser Rückkehrermilieus. Der Ansatz der Autorin, eine Remigrationsgeschichte von unten zu schreiben, d. h. auf die Diskussion der intellektuellen Transfers beziehungsweise die Elitenperspektive zu verzichten, reduziert diese Teile der Arbeit stark auf eine konventionelle Organisations- und Alltagsgeschichte, in der das Auftreten der Remigranten eher zufällig ist. Schließlich zeigen die Passagen über die Rückkehrer in den vorgestellten Berufsfeldern, etwa in den Medien, den Wissenschaften und den Künsten, dass es ganz ohne Blick auf die Eliten doch nicht geht. Das bestätigt auch die im Anhang des Bandes wiedergegebene Auswahl von Kurzbiografien.

Umso schlüssiger ist dagegen die Vorstellung der gesellschaftspolitischen Engagements von Rückkehrern jenseits der Parteienaktivitäten. So etwa beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Publizistik, bei der Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) 1947, die sich bereits nach einem Jahr an den alten Gegensätzen von SPD und KPD wieder spaltete, oder bei der immer wieder öffentlich eingeforderten Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, beim Aufbau von Erinnerungsorten etc. Die hier ebenfalls wiederholt erlebten Widerstände bestätigen die von der Autorin schon für die anderen Analysefelder zusammengetragenen Schwierigkeiten der Integration. Sie machen erklärlich, warum bei den Meisten Zweifel und Ambivalenzen blieben, ob ihre Rückkehr richtig gewesen sei, wie im Schlusskapitel mit eindrucksvollen Belegen dargestellt wird.

Claus-Dieter Krohn