John Foot: Calcio. A History of Italian Football, London: Fourth Estate 2006, xxiv + 565 S., ISBN 978-0-00-717574-1, GBP 15,00
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Die italienischen Parlamentswahlen des April 2006 haben es deutlich gemacht: Trotz Globalisierung und trotz des 'gemeinsamen Hauses' der Europäischen Union ist Italien, sind seine spezifischen Mentalitäten entlang massiver gesellschaftlicher Bruchlinien, selbst für historisch wie politisch Interessierte kaum nachvollziehbar: Konflikte Norden gegen Süden (oder Ost gegen West) existieren auch in anderen Ländern, ohne daraus eine radikale Dichotomie reich gegen arm zu konstruieren; Gegensätze von links gegen rechts kennzeichnen einen Gutteil der politischen Landschaften, ohne darin einen unerbittlichen Antagonismus von Faschismus und Kommunismus zu sehen.
Die Beschäftigung mit dem Fußball ('Calcio') bildet wohl eine der wenigen Chancen, nicht nur diese italienischen Gefühlslagen, sondern auch deren Umsetzung in politische Entscheidungen und ökonomische Strategien zu verstehen. Wenn im baufälligen Stadion 'Armando Picchi' in Livorno, der Gründungsstadt der PCI, die Hausherren vom AS Livorno gegen SS Lazio aus Rom spielen, ist das nicht nur ein Fußballspiel: Während die Irriducibili, die Fans von Lazio, ihre Keltenkreuzfahnen entrollen und Mussolini bejubeln, antworten die Heimfans der Brigate Autonome Livornesi mit Stalin-Postern und intonieren 'bandiera rossa'. Sollte der Star der Römer, Paolo di Canio, ein Tor erzielen, wird er seine mit einer 'Duce'-Tätowierung versehene Rechte zum Faschistengruß recken. Falls dann sein Livorno-Rivale Cristiano Lucarelli der Ausgleich gelingt, wird er seine Anhänger mit geballter Faust wissen lassen, dass er "schon von Geburt an" Kommunist sei.
Natürlich ist es als Nicht-Italiener schwierig, zum Insider des 'Calcio' zu werden. Bietet sich für Sprachkundige die tägliche Lektüre der Gazzetta dello Sport (mit sieben Prozent Reichweite und drei Millionen Leserinnen und Lesern die größte Tageszeitung Italiens) an, ist der Rest auf profunde Unterstützung angewiesen. Eine solche bietet das Buch 'Calcio' von John Foot, einem Kenner der Materie. Dies gilt weniger deshalb, weil er als Historiker moderne italienische Geschichte unterrichtet, sondern weil er geschichtliches Wissen - als Arsenal-Fan - mit fußballerischem Verständnis und - als Pendler zwischen London und Mailand und Ehemann einer Italienerin - mit praktischer Erfahrung eines Lebens im fußballverrückten Italien verbindet.
In seiner Historie des italienischen Fußballs geht John Foot nicht chronologisch vor. Nur im einleitenden Abschnitt über die Anfänge des 'Calcio' wird eine Epoche beschrieben, als der englische Fußballsport in den späten 1880ern in Italien rezipiert, doch etwa 20 Jahre später einer ersten Italienisierung unterzogen wurde: in einer nationalistischen Geste wurde der Fußball nicht mehr auf seine englischen, sondern auf die florentinischen Wurzeln des 'Calcio' zurückgeführt und dem entsprechend umbenannt. Auch wenn 'Football' mit den mittelalterlichen Praktiken wenig gemein hatte, hieß es forthin, die Engländer hätten den Fußball lediglich wiedererfunden.
Von dieser unter Mussolini noch intensivierten Italienisierung ausgehend baut Foots Darstellung in der Folge nicht auf eine Darstellung von Entwicklungsschritten, sondern greift geschickt auf die entscheidenden Bestimmungselemente des italienischen Fußballs - seien sie realiter gegeben oder auch nur zugeschrieben - zurück: Er beginnt mit der seltsamsten Figur im italienischen Fußball, dem Schiedsrichter. Referees werden überall auf der Welt kritisiert, doch wird nur in Italien ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie sowohl bestechlich sind, als auch dass sie bestochen werden. So wird der Schiedsrichter zum Repräsentanten eines feindlichen und korrupten Systems, das als notwendiges Übel hingenommen wird, auch wenn es letztlich nur den Spielfluss stört. Deshalb werden verbale wie tätliche Injurien gegen Schiedsrichter zwar nicht gut geheißen, erscheinen aber verständlich und tolerierbar.
In ähnlicher Weise verfährt John Foot auch mit anderen Eigenheiten des italienischen 'Calcio', indem er über Fußball spricht, aber Überlegungen zu Italien anstellt. Aus der Beschreibung und Analyse lokaler traditioneller Konfliktlinien zwischen den Großklubs entstehen Bilder gesellschaftlicher und mentalitätsgeschichtlicher Ressentiments zwischen Städten und Regionen. Aus Schilderungen berühmter Spieler, Manager und Trainer entwickeln sich Einsichten über italienische oder eben un-italienische Eigenschaften und Vorlieben. Und das speziell norditalienischen Mannschaften nachgesagte Defensivspiel ('Catenaccio') entpuppt sich nicht nur als schweizerische Erfindung, sondern in seiner italienischen Variante als nationale Machtdemonstration: Nicht die Defensive steht dabei im Vordergrund, sondern der möglichst lange Ballbesitz und der daraus folgende überraschende Angriff.
Das Fußballstadion ist der Ort, an dem Italiener (und Italienerinnen) ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Das manifestiert sich schon in der Sammelbezeichnung 'tifosi', die vom Typhus hergeleitet wird, aber auf Grund der damit verbundenen Fieberschübe auch mit Delirium und Wahnsinn in Verbindung gebracht wird. Wo sich Gefühlsausbrüche mit Wahnsinn (und einer Portion quasi-religiösem Fanatismus) mischen, sind harte Auseinandersetzungen zwischen Teams und Fans die logische Folge, wie Foot etwa an Beispielen von Fan-Transparenten demonstriert. Zugleich zeichnet er nach, wie sich diese Auseinandersetzungen von lokalen Querelen (etwa zwischen Mailand und Turin) auf den Nord-Süd-Konflikt und schließlich zu ausländerfeindlichen und rassistischen Mustern erweiterten.
In zwei für Nicht-Italiener besonders spannenden Kapiteln zeigt Foot letztlich, dass sich in Italien Fußball und Politik und auch Fußball und Wirtschaft nicht nur, wie in anderen erfolgreichen Fußball-Nationen, vermischen, sondern unentwirrbar eins sind. Fußball ist einer der größten Wirtschaftszweige Italiens und er ist Politik. Nicht zufällig hat Milan-Präsident Silvio Berlusconi seine politische Bewegung nach dem Schlachtruf des Nationalteams 'Forza Italia' benannt und ihr die Farben der 'Squadra' verliehen. So ist die Politik nur die Fortsetzung des Fußballspiels mit anderen Mitteln, nicht umgekehrt. So ist es klar, dass die Machinationen der Regierung Berlusconi gerade im Fußball sinnfällig werden: Jeder weiß, dass im italienischen Fußball bestochen wird (wie in jedem anderen Wirtschaftsbereich auch). Doch war es sicher kein Zufall, dass in den Regierungszeiten Berlusconis nur Schmiergeldzahlungen 'linker' Klubs aufgedeckt wurden, sodass derzeit mit Livorno und Fiorentina nur mehr zwei 'linke' Vereine in der Seria A spielen.
Der Gewinn aus der Lektüre von Foots Buch wäre nur für eine wohl kleine Zahl an Fußballinteressierten gegeben, ginge es dabei nur um 'Calcio'. Doch weil das Buch einerseits die engen Verbindungen von Fußball, Ökonomie und Politik in Italien aufzeigt, andererseits darauf eine verständliche Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert konstruiert, ist es auch (oder gerade) für Sportlaien zu empfehlen. Dass John Foot dabei nicht ohne vereinfachende Stereotypisierungen auskommt, soll keine Kritik an seinem Buch sein, im Gegenteil: Sie sind als kollektive Mythen unausweichlicher Bestandteil des Fußballs und ebenso der Geschichte Italiens.
Matthias Marschik