Klaus Herbers / Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VII + 343 S., ISBN 978-3-412-23405-8, EUR 34,90
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Rechtzeitig ein Jahr vor dem 200. Jahrestag des Unterganges des Heiligen Römischen Reiches haben die Erlanger Historiker Klaus Herbers und Helmut Neuhaus einen hochwertig produzierten Überblicksband zu dessen Geschichte vorgelegt. Das große Format und die reiche Bebilderung eignen sich - ebenso wie der elegante und unprätentiöse Erzählstil - für die Vermittlung der Reichsgeschichte an ein breiteres Publikum. Mit der Zusammenführung der vielfältigen neuen Forschungsergebnisse zur Reichsgeschichte wird insbesondere wieder die Ganzheit und Gesamtheit der Reichsgeschichte ins Bewusstsein gerückt, die durch den ausgesprochen heterogenen Zugriff der kollektiven Erinnerung im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Blick geraten war.
Für diese Einordnung und Neuverortung des Reiches in der deutschen Erinnerungskultur machen sich Klaus Herbers und Helmut Neuhaus das Konzept der 'lieux de mémoire' (1 f.) zu eigen. Sie wollen, ausgehend von einer geographischen Verortung des Geschehens, die Vielfalt und lebensweltliche Gegenwart möglicher Erinnerungsorte aufzeigen: Die Orte und Räume "wurden vor allem dadurch zu Schauplätzen und Erinnerungsorten, weil hier Personen handelten oder litten" (2). In diesem Spannungsfeld zwischen handelnden Akteuren und topographischen Gegebenheiten entfalten die beiden Autoren ihre Reichsgeschichte.
Die Rückkoppelung der geschichtlichen Ereignisse an ihre Orte wird für den Lesenden durch zwei Strategien erreicht: Zum einen in den bereits erwähnten ortsbezogenen Kapitelüberschriften, zum anderen bietet die an vielen Stellen anzutreffende Gegenüberstellung von zeitgenössischen Zeichnungen, Gemälden und Graphiken mit Fotografien städtebaulicher oder architektonischer Ensemble im 20. Jahrhundert Gelegenheit, die Spuren und Strukturen der Reichsgeschichte in der Gegenwart wiederzufinden und zu verorten.
Dieser Ansatz drückt sich schon in den Kapitelüberschriften aus. Beginnend mit "Die Karolinger: Von Aachen nach Forchheim" über "Die Staufer: Schwaben, Sizilien und Burgund" bis "Das Ende des Reiches: Zwischen Berlin und Wien" ist das Inhaltsverzeichnis in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Das Mittelalter gliedert sich nach den Dynastien, die Frühe Neuzeit nach Epochenprozessen wie Reformation, Konfessionalisierung oder Absolutismus. Beiden Großepochen ist jedoch die Schwierigkeit gemeinsam, zentrale Orte auszumachen. Denn Regionenbezeichnungen wie "Schwaben", "Böhmen", der "Südosten", "Westfalen" oder die "Türkenfront" sind als punktgenau zu fixierende Orte zu unscharf und vielschichtig, um wirklich als Ankerpunkte einer ortsbezogenen Erinnerung zu fungieren.
Hierin spiegelt sich letztlich aber nur die Besonderheit der 'dezentralen' Reichsgeschichte, eben an vielen Orten zugleich und nirgendwo so massiv präsent zu sein, dass dominierende 'Erinnerungsorte' offensichtlich bereitstehen. Diese Dezentralität wäre noch vielfältiger und schwerer fassbar gewesen, wenn man über die Fokussierung auf die Kaiser als agierende Subjekte mit den Reichsfürsten als Mit- und Gegenspieler hinausgegangen wäre, und all jene reichsstädtischen, reichsklösterlichen oder reichspostbezogenen Orte mit aufgenommen hätte, die die Gegenwart des Reiches jenseits der machtpolitischen Faktoren verkörpern.
Die Schwierigkeit der Verortung der Reichsgeschichte findet sich auch im Text wieder. Besonders im mittelalterlichen Teil (z. B. 34 f., 120) werden auch wissenschaftshistorisch wichtige Forschungskontroversen zu zentralen Aspekten der Reichsgeschichte in die Darstellung der Ereignisse eingebunden. Sie dokumentieren die divergierenden Interpretationen und Wahrnehmungen der Besonderheiten des Reiches in der Geschichtsschreibung.
Die Auswahl bekannter wie weniger bekannter Abbildungen lassen ein sehr vielfältiges Panorama entstehen. Drei Bögen mit Farbabbildungen präsentieren zusammenfassend die wichtigsten 'Orte' des Früh- und Hochmittelalters (72 / 73), des Spätmittelalters (168 / 169) und der Frühen Neuzeit (248 / 249).
Etwas unglücklich mag erscheinen, dass gerade für den mittelalterlichen Teil der Reichsgeschichte immer wieder auf Graphiken und Gemälde aus dem 19. Jahrhundert zurückgegriffen wird (45, 82, 85, 102, 135, 136, 138, 173). In rein illustrierender Absicht eingebaut, findet sich kein Hinweis auf die Problematik der Darstellung des Mittelalters im Historienbild des 19. Jahrhunderts, das ja so nachhaltig zu jener disparaten Erinnerungskultur beigetragen hat, die das Buch zu überwinden sucht. Nichtsdestoweniger ergänzen sich die textlichen Darstellungen und die bildlichen Repräsentationen zu einem Ganzen, das immer wieder auf die Vielfalt und Dynamik jener reichsgeschichtlichen Ereignisorte verweist.
Im letzten Kapitel schließen die Autoren ihre methodische Klammer der 'lieux de mémoire' indem sie die vielfältigen Aneignungs- und Erinnerungsstrategien der Reichsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert anhand deren Erinnerungsorte aufzeigen. Der solchermaßen entstandene Meta-Text zur Reichsgeschichte ist zugleich eine Aufforderung an den Leser, aus der Fülle der Orte und Ereignisse sich jene zu erschließen, die ihm als Erinnerungsorte dienen mögen und von Bedeutung sind.
Hierin liegt der eigentliche Wert des Bandes. Die nationalstaatsorientierten Zugriffe auf das Heilige Römische Reich konnten nicht gelingen und hinterließen Bruchstücke. Herbers und Neuhaus öffnen den Blick für die Eigenheiten, die Konsistenz wie die Heterogenität des Reiches und die vielfältigen Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Sinnstiftung und Erinnerung. Die Leser des Bandes sind aufgefordert, diese durch Blättern, Stöbern, Schauen und Lesen aufzufinden und sich das Reich, seine Geschichte und seine Orte zu erschließen.
Inken Schmidt-Voges