Helmut Reihlen (Hg.): Heilige Gewänder - Textile Kunstwerke. Die Gewänder des Doms zu Brandenburg im mittelalterlichen und lutherischen Gottesdienst (= Schriften des Domstifts Brandenburg; Bd. 1), Regensburg: Schnell & Steiner 2005, 138 S., ISBN 978-3-7954-1726-0, EUR 19,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Helmut Reihlen (Hg.): Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg, Regensburg: Schnell & Steiner 2005, 496 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7954-1684-3, EUR 148,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Stephan Kemperdick: Deutsche und böhmische Gemälde 1230-1430. Gemäldegalerie Berlin - Kritischer Bestandskatalog, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010
Emanuel Poche: Matthias Bernhard Braun. Monographie. Hrsg. v. Hans Jäger, Innsbruck: StudienVerlag 2003
Stefanie Lieb: Der Rezeptionsprozeß in der neuromanischen Architektur. Studien zur Rezeption von Einzelformen in restaurierter romanischer und in neuromanischer Architektur, Köln: Kunsthistorisches Institut 2005
Historische Textilien erfreuen sich meist nur eines geringen öffentlichen Interesses. Bei intensiverer Betrachtung erweisen sie sich aber nicht selten als faszinierende Objekte. Schon die handwerkliche Präzision, mit der sie hergestellt wurden, erregt Staunen, und ihre oftmals exotische Herkunft zeugt von den Beziehungen, die Orient und Okzident schon immer verbunden haben. Auch das hohe Alter, das Luxusstoffe offensichtlich erreichen können, darf man herausstellen. Ähnlich wie Pergamenthandschriften sind etwa alte Seidenstoffe - bei einigermaßen angemessener Behandlung - faktisch unverwüstlich. Das gilt vor allem für liturgische Gewänder, da diese im Gegensatz zu profanen Textilien geringer beansprucht wurden und die Schnitte der Kaseln, Dalmatiken, Chormäntel usw. keinem schnellen Wandel der Moden unterlagen. Die meisten erhaltenen Gewänder des Mittelalters entstammen also dem sakralen Bereich. Damit ist allerdings ein Problem verbunden, denn der ursprüngliche liturgische Funktionszusammenhang ist Textilfachleuten und Kunsthistorikern meist nur vage vertraut, während die wenigen Theologen, die sich mit mittelalterlicher Liturgie befassen, kaum über textilkundliche Spezialkenntnisse verfügen. Das Thema verlangt nach fächerübergreifender Behandlung. Es ist ein Glücksfall der besonderen Art, wie die oft beschworene Interdisziplinarität im Fall des großen Katalogbandes über die liturgischen Gewänder und sonstigen Paramente des Doms zu Brandenburg verwirklicht wurde. Neben den Experten, die teilweise schon sehr lange mit diesen Beständen vertraut sind, gebührt der Abegg-Stiftung, die unbestritten die führende europäische Einrichtung auf dem Gebiet historischer Textilien ist, ein herausragendes Verdienst am Zustandekommen dieses vorbildhaften Werkes.
Die Textilien des Brandenburger Doms sind der Mühe wert, die auf sie verwendet wurde. Durch eine gewisse Ironie der Geschichte haben sich in dieser im 16. Jahrhundert lutherisch gewordenen Kirche vergleichsweise viele mittelalterliche liturgische Gewänder erhalten. Diese Tatsache ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Bekanntlich zählt Luther liturgische Gewänder zu den "Adiaphora", d. h. zu den Dingen, die aus seiner Sicht keine eigene Bedeutung haben. Er wollte mit dieser Einschätzung vor allem die Gemüter beruhigen, denn auch Luther dürfte klargewesen sein, wie aussagekräftig Kleidung sein kann - das lehrt nicht erst die moderne Jugendkultur. Jedenfalls wurden infolge dieser Entscheidung des Reformators die überkommenen Gewänder im Bereich des Luthertums weiterhin genutzt. Man bewahrte und pflegte sie, aber man schaffte kaum neue an. Vor allem aber machte man nicht die Entwicklung der katholischen liturgischen Gewandung mit. Hier veränderten sich nämlich die Schnitte sehr stark. Das geschah nicht nur bei neuen Stücken, sondern man arbeitete fast durchgängig auch die alten Gewänder um. Das Luthertum, das auch sonst Erbstücke der mittelalterlichen Liturgie bewahrt hat, beließ sie hingegen, wie sie waren. Erst das 19. Jahrhundert änderte die Bräuche und machte den "Lutherrock" zum normalen gottesdienstlichen Kleidungsstück. Die alten Kaseln usw. verschwanden oder wurden wie in Brandenburg als "Alterthümer" aufgehoben. Allerdings stehen sie immer noch unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Diesen Umstand macht ein wenig das "Geleitwort" (9) für den vorliegenden Band deutlich. Wolfgang Huber, Landesbischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Domdechant von Brandenburg, nähert sich nämlich dem Thema etymologisch und bringt die "Textilie" mit dem "Text" in Verbindung. Wenn man den großen Aufwand bedenkt, den das Domstift seit dem 19. Jahrhundert mit den funktionslos gewordenen Gewändern treibt, darf man für deren dauerhafte Unterschutznahme durch das reformatorische Schriftprinzip sehr dankbar sein.
Den ersten inhaltlichen Hauptteil des Werkes bilden mehrere Aufsätze. Nach Dietrich Kurzes fundierten historischen Ausführungen (17-33) zur Geschichte des Bistums folgen fünf textilkundliche Abhandlungen. Zuerst gibt Christa-Maria Jeitner einen Überblick über den Gesamtbestand der Brandenburger Textilien (35-51). Es folgt ein von Jeitner zusammen mit Ilona May und Karel Otavský erarbeiteter Aufsatz zu den in Brandenburg vorhandenen Geweben (53-65). Weiterhin behandelt Evelin Wetter die Stickereien (67-77). Sie untersucht und ediert auch die Makulaturblätter, die unter diesen aufgefunden wurden (79-91). Im fünften Aufsatz analysiert Christa-Maria Jeitner die Schnitte und Formen der Paramente (93-107). Die Schnitte werden anschließend in akribisch genauen Zeichnungen von Ilona May und Iris May wiedergegeben (108-129). Bei allen Aufsätzen ist die überragende Fachkompetenz hervorzuheben, die sich etwa in einer bemerkenswert genauen Terminologie zu erkennen gibt - ein Problem, das sich gerade bei der Benennung von Stoffen immer wieder stellt. Es dürfte wenige Experten geben, die dieses Gebiet so beherrschen wie Karel Otavský, weshalb die terminologischen Ausführungen einen regelrechten Handbuchcharakter gewinnen. Gerade wegen der wissenschaftlichen Genauigkeit, die aber nicht mit einer unverständlichen Sprache einhergeht, dürfte es auch einem Laien immer möglich sein, den Texten zu folgen, und zwar mit Freude. Dazu tragen auch die vielen Vergleichsabbildungen und Rekonstruktionszeichnungen bei.
Den zweiten Hauptteil des Buches bildet der umfangreiche Katalog (130-457). Er behandelt die Paramente - soweit als möglich - nach ihrer Provenienz, denn der heutige Bestand enthält neben den Textilien des Domstifts auch noch Objekte anderer Kirchen, etwa diejenigen der zerstörten Marienkirche auf dem Harlunger Berg. Der Aufbau der Katalognummern kann nur als vorbildhaft bezeichnet werden. Bei aller Sorgfalt und bei aller erreichten Einheitlichkeit fehlt jedoch die Pedanterie, die so manchen Katalog unhandlich macht. In der vorliegenden Publikation bleiben die Kategorien sinnvoller weise flexibel. Ein Hungertuch wird anders behandelt als ein Pluviale. Wie in der gesamten Publikation so wird auch hier Wert auf eine am historischen Sprachgebrauch ausgerichtete Begrifflichkeit gelegt. Beispielsweise verwenden die Autoren für das Gewand des Subdiakons die alte Bezeichnung "Subtile", während man in anderen Publikationen fast nur noch von Dalmatik spricht. Auch der Katalogteil kann auf Grund der exemplarischen Behandlung der einzelnen Stücke gewissermaßen als Nachschlagewerk benutzt werden.
Ein großes Verdienst des vorliegenden Buches sind die sorgfältigen Aufnahmen von Hans Uwe Salge. Es wurde bei ihnen großer Wert darauf gelegt, die Gewänder nicht als isolierte Objekte, sondern in ihrem historischen Umfeld zu zeigen. Besonders gelungen sind jedoch die Nahaufnahmen. Auf dem benutzten Papier kommen sie bestens zur Geltung. Sie lassen die Faktur der Textilen, so gut es in einem gedruckten Buch möglich ist, anschaulich werden. Man merkt auch hier die Sorgfalt, mit der alle Beteiligten gearbeitet haben.
Der große Katalogband beschränkt sich vorwiegend auf textilkundliche Aspekte, während ein gesondert erschienener Begleitband mit dem Titel "Heilige Gewänder - Textile Kunstwerke" seinen Schwerpunkt bei liturgischen Fragen hat. Die Trennlinie ist jedoch nicht scharf gezogen. Am Beginn steht ein grundlegender Aufsatz von Eugenie Lecheler zum "Gottesdienst im mittelalterlichen Brandenburger Dom" (11-25). Die Verfasserin stützt sich auf die beiden erhaltenen spätmittelalterlichen Ordinarien des Doms, deren beste Kennerin sie ist. Da unmöglich die Vielfalt der alten Liturgie auf wenigen Seiten anschaulich gemacht werden kann, beschränkt sie sich sinnvoller weise auf eine Darlegung zur Liturgie der Kar- und Ostertage. An diesen Aufsatz schließt sich logisch ein weiterer an, der von Eugenie Lecheler zusammen mit Evelin Wetter erarbeitet wurde. Die Autorinnen untersuchen die beiden Ordinarien speziell im Hinblick auf die - wenigen - Angaben zu den Gewändern (26-41). Mit dem Thema "Herrschaftswechsel in der Mark Brandenburg und kunstlandschaftliche Entwicklungen" (42-66) lenkt Evelin Wetter anschließend den Blick auf allgemeinere Themen. Der folgende Aufsatz stammt von Christa-Maria Jeitner, die auch schon maßgeblich am Katalogband beteiligt war. Sie widmet sich der Aufbewahrungs- und Erhaltungsgeschichte der Gewänder (67-77). Darüber weiß man normalerweise wenig. Im Brandenburger Dom sind aber nicht nur die alten Gewänder erhalten, sondern auch die alten Räumlichkeiten und die alten, klimatisch so günstigen Sakristeischränke - wiederum ein exemplarischer Fall. Von besonderem Gewicht ist der Begleitband auch wegen der Abhandlung von Marina Flügge, die "Kontinuität und Wandel im Gebrauch liturgischer Gewänder in reformatorischer und nachreformatorischer Zeit" darstellt (78-97). Die spärlichen Belege, die sich erhalten haben, fügt sie zu einem stimmigen Bild zusammen, das die heutigen Vorstellungen von der Geschichte des lutherischen Gottesdiensts um wichtige Aspekte erweitert. Die letzten drei Aufsätze stammen nochmals von Christa-Maria Jeitner. Sie behandelt hier Probleme der Futterstoffe (98-105), die man allerdings eher im Katalogband erwartet hätte, sowie mehr historische Fragen zu den Gewändern aus der Marienkirche auf dem Harlunger Berg (106-113) und zu denjenigen der Burgkapelle von Ziesar (114-117).
Insgesamt entsteht ein außerordentlich positives Bild. Es gibt nur wenige Abhandlungen zu historischen Gewändern, die derart qualitätvoll sind, wie die beiden vorliegenden Bände. (Wünschenswert wären weitere Arbeiten dieser Art, etwa für die Gewänder des Halberstädter Domes!) Die Bedeutung - besonders die des Katalogbandes - besteht dabei nicht nur in der Behandlung der Brandenburger Paramente, sondern auch in der exemplarischen Weise, in der diese Aufgabe erfüllt wurde.
Christian Hecht