Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America's Advance Through Twentieth-Century Europe, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2005, 586 S., 45 halftones, ISBN 978-0-674-01672-9, USD 29,95
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Der Gegenstand des vorliegenden Bandes ist der Aufstieg des US-amerikanischen Imperiums, das von Victoria de Grazia schwer übersetzbar als Market Empire bezeichnet wird. Es entstand im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, erreichte seinen Höhepunkt in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts und zeigte erste Zeichen von Desintegration an der Wende zum nächsten Jahrhundert. Dieses Imperium wurde von den Großunternehmen ebenso wie von staatlichen Institutionen und Privatinitiativen vorangetrieben, in dem sie den American way of life auf der ganzen Welt bekannt machten. Der Antrieb dazu und die Instrumente dafür waren die gleichen, die auch bereits in den USA für den Übergang zur Massenkonsumgesellschaft gesorgt hatten. Diese hatten eine Reihe von besseren Innovationen auf dem Gebiet des Konsums, die für ihre globale Hegemonie eine wichtige Rolle spielten und die den Gegenstand des vorliegenden Buches bilden.
Dabei ist die Konsumkultur schwer zu fassen, da sie aus einer Unzahl verschiedener Marketingstrategien, staatlicher Detailbeschlüsse und nicht zu zählender Einnahme- und Ausgabeentscheidungen entsteht. De Grazia möchte zeigen, wie diese Konsumkultur in eine Großmacht verwandelt wurde und wie die USA diese nutzten, um anderswo demokratische Konsumgesellschaften zu schaffen. Dabei ist ihre Ausgangsthese, dass die schließlich weltweite amerikanische Hegemonie von europäischem Territorium ausging. Hier etablierten die USA ihren Ruf als weltweit erste Konsumgesellschaft, indem sie die seit dem Frühkapitalismus gesammelte Autorität der europäischen bürgerlichen Geschäftskultur und das damit verbundene alte Konsummodell überwanden. Um diese These zu belegen, betrachtet de Grazia das Market Empire aus drei Perspektiven. Erstens richtet sie ihren Blick auf jene Kräfte, die über die USA hinausdrängten und ihre Institutionen und Handlungsweisen in Europa ausbreiteten. Zweitens wird die europäische Geschäftskultur rekonstruiert, deren Vorstellungen von Marktinstitutionen und Werten mit der amerikanischen Konsumkultur rivalisierten. Daraus entstand laut de Grazia ein "transatlantic clash of civilizations" (10) mit zwei wesentlichen Konflikten, von denen der erste mit dem NS-Regime und der zweite mit der Sowjetunion ausgetragen wurde. Ihre dritte Perspektive richtet sich auf das Neue, das in einer transatlantischen Dialektik durch die amerikanische Konsumrevolution gefördert wurde. Letztlich entstand in Europa keine 1:1-Kopie des amerikanischen Originals, sondern spätestens ab den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine europäische Konsumgesellschaft, in der die Elemente des Market Empire in eigener Art und Weise aufgegriffen wurden.
Diese drei Perspektiven werden in neun, sich zeitlich überlappenden und im 20. Jahrhundert immer weiter vorwärts schreitenden Kapiteln eingefangen, die sich jeweils um eine soziale Neuerung drehen. Jede dieser Erfindungen war ein wesentliches Transportmittel für die amerikanische Konsumkultur. Dabei handelt es sich um die Service-Ethik oder Dienstleistungsmentalität, deren Ausbreitung eng mit den Rotarien verknüpft war. Weiter geht es um die Vorstellung von einem angemessenen Lebensstandard. Danach werden die Einzelhandelsketten betrachtet, um dann auf die Markenartikel einzugehen. Anschließend behandelt de Grazia die Veränderungen in der Werbung und sodann, wie Hollywood den europäischen Filmbetrieb verwandelte. Weiter geht es um die Verbreitung der Vorstellung von der Konsumentensouveränität und damit der Konstruktion des Bürgers als Konsument und dann um die Ausbreitung der Supermärkte. Schließlich wird die Verankerung eines Modells der Frau als Konsumentin mittels der Rationalisierung im Haushalt mit modernen Geräten und Maschinen dargestellt. Für alle diese sozialen Neuerungen zeigt de Grazia, wie sich das amerikanische Original in Europa ausbreitete und dabei selbst verändert wurde. Das tut sie immer anhand einzelner, mitunter durchaus überraschender Geschichten. Beispielsweise beauftragte die Ford Motor Company 1929 die Internationale Arbeitsorganisation in Genf, die Lebenshaltungskosten in verschiedenen europäischen Regionen zu bestimmen. Anhand derer sollte die Höhe der Löhne in ihren europäischen Fabriken bestimmt werden, die in 17 verschiedenen Städten in 12 Ländern bereits errichtet worden oder geplant waren. In den USA stand die Ford Company für eine hohe Entlohnung ihrer Arbeiter und erschwingliche Preise für ihre Automobile. Wenn sie nun die Löhne in Europa auf Basis der dortigen Lebenshaltungskosten festlegte, stand dahinter auch ein bestimmtes Konzept für einen anständigen Lebensstandard, was auf diesem Weg auch in Europa verbreitet wurde. Diese und andere Geschichten machen das Buch zu einem abwechslungsreichen Lesevergnügen.
Abschließend markiert de Grazia den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa als das Ende des sozialistischen Widerstands gegen das Market Empire, so wie die Niederlage des NS-Regimes das Ende des konservativen und reaktionären Widerstands ausmachte. Damit war der Weg frei, um die gesamte Welt in die westliche Konsumgesellschaft einzubeziehen, während gleichzeitig die Grundlagen der amerikanischen Hegemonie immer weniger evident sind: Mit den neuen Informationstechnologien wächst die Flexibilität der Produktion und es bieten sich für die in Europa viel weiter verbreiteten kleinen und mittleren Hersteller neue Möglichkeiten. Europäische Handelsketten lösen die Dominanz der amerikanischen ab. Seit den Achtzigerjahren hat der durchschnittliche Westeuropäer gemessen an verschiedenen Indikatoren einen höheren Lebensstandard als der durchschnittliche US-Amerikaner. Schließlich war Europa am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso eine Konsumgesellschaft wie die USA und die amerikanische Konsumkultur verliert laut de Grazia an Einfluss.
Das Buch basiert auf einer beeindruckenden Vielzahl von Quellen aus verschiedensten amerikanischen und einigen europäischen Archiven. Zudem wurde auch die zeitgenössische Literatur ebenso wie die vorliegende Forschung in außerordentlich breitem Maße rezipiert, wobei aber die Schwerpunkte und Vorlieben der Autorin erkennbar sind. Angesichts der Breite des Herangehens wäre es unbillig, dieses oder jenes zusätzlich einzufordern. Jedoch überrascht es angesichts des zentralen Stellenwerts der Sowjetunion und des Ostblocks sowie der dort herrschenden Konsumvorstellungen für die Thesen von de Grazia, wie wenig diese in dem Buch aufgegriffen werden. Alles in allem liegt hier aber eine überaus lesenswerte Arbeit mit vielen weiter zu diskutierenden Thesen vor, das für jeden ein Muss ist, der sich mit der Geschichte des Konsums im zwanzigsten Jahrhundert, gleichgültig aus welcher Perspektive, befasst.
André Steiner