Christian Pfister / Stephanie Summermatter (Hgg.): Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen (= Berner Universitätsschriften; Bd. 49), Bern: Haupt Verlag 2004, 276 S., ISBN 978-3-258-06758-2, EUR 32,00
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Der Kontrast könnte kaum größer sein. Während man mit den Ergebnissen der systematischen Desasterforschung mittlerweile Bibliotheken füllen kann, dürfte für die historische Aufarbeitung entsprechender Ereignisse - abgesehen von "großen" Katastrophen wie Kriegen, Seuchen oder Hungersnöten - ein Regal ausreichen, wobei noch genügend Platz für Neuanschaffungen vorhanden wäre. Auch wenn dies kein explizit formuliertes Ziel des hier besprochenen Werkes ist, kann der Sammelband "Katastrophen und ihre Bewältigung" doch als Aufruf an die historische Forschung angesehen werden, sich stärker mit solchen Ereignissen zu beschäftigen.
Der Band versammelt Referate aus einer Vorlesungsreihe, die im Sommersemester 2003 an der Universität Bern abgehalten wurde, und einigen Beiträgen ist dieser Entstehungshintergrund noch deutlich anzumerken. Ziel der Veranstaltung war es, "zwischen den vielfältigen, an der Erforschung von Katastrophen beteiligten Disziplinen Brücken zu schlagen." (V) Steht die Diversität der Herangehensweisen im Mittelpunkt dieses Buches, so ist doch auf der anderen Seite ein deutlicher Fokus erkennbar. Acht der 13 Artikel befassen sich in der ein oder anderen Form mit Naturgefahren und den dadurch induzierten Katastrophen. Diese Schwerpunktsetzung ist insofern wenig erstaunlich, als Christian Pfister und Stefanie Summermatter vorwiegend im Bereich der Umweltgeschichte arbeiten, einer Teildisziplin, die seit einiger Zeit vorexerziert, welche Gewinne, aber auch welche Probleme die Auseinandersetzung mit Katastrophen mit sich bringt.
Gleich zwei Beiträge befassen sich mit Jeremias Gotthelfs Erzählung "Die Wassernot im Emmental" aus dem Jahr 1838. Während Hanns Peter Holl den religiösen Elementen in dieser Schrift nachgeht, versuchen Rolf Weingartner und Thomas Reist mithilfe eines Niederschlag-Abfluss-Modells, den literarischen Text in eine "naturwissenschaftliche Informationsquelle" zu verwandeln. Das Modell wurde dabei mit Daten aus dem Jahr 1997 kalibriert und unter Einbeziehung möglichst vieler Angaben aus textlichen Quellen sowie unter Berücksichtigung der hydrologisch wirksamen Unterschiede (wie etwa der Waldfläche) auf das Jahr 1837 übertragen. Am Ende des Artikels findet sich eine erstaunlich detaillierte Rekonstruktion der Überschwemmung von 1837. Fraglich ist allerdings, ob hier nicht durch den Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden eine Genauigkeit suggeriert wird, die in der Analyse historischer Ereignisse gar nicht zu erreichen ist, weil die Ergebnisse - ironischer Weise aufgrund des Mangels an Quellen - schwer falsifizierbar sein dürften. Die Autoren räumen ein: "Die Verlässlichkeit der 'Modellversion 1837' selbst kann nicht überprüft werden. Bei der Anpassung des Modells an die historische Situation muss [...] mit einer Verschlechterung der Modellgüte gegenüber der 'Version aktuell' gerechnet werden." (34)
Die Beiträge von Rosmarie Zeller über die Semiotik von Naturkatastrophen in der Frühen Neuzeit, von Reinhard Schulze über islamische und von Hans-Ferdinand Angel über christliche Katastrophendeutungen befassen sich - ebenso wie der schon angesprochene Beitrag von Holl - mit der Bedeutung und Vielfältigkeit religiöser Interpretamente. Kurt Imhof führt in seinem interessanten Beitrag über Katastrophenkommunikation die Thematik zurück in die Moderne. Katastrophen können seiner Ansicht nach als "semantische Leitfossilien" einer Gesellschaft interpretiert werden, indem sie als diskontinuierliche Phänomene Gradmesserfunktionen aufweisen und - mit der abnehmenden Akzeptanz religiöser Deutungsmuster - den jeweils vorherrschenden "moralisch-normativen Diskurs" offenbaren. In der Schweiz dienten Naturkatastrophen in Ermangelung an Kriegen und sonstigen großen Krisen als "nationale Mobilisierungsereignisse" und hatten sinnstiftende Funktion, wie Christian Pfister in gewohnt souveräner Weise darstellt.
Für Wolf R. Dombrowsky sind Katastrophen mehrheitlich durch die "Banalität des Blöden" bedingt (180), die kollektives Lernen verhindere. "Folglich sind Katastrophen in Anlehnung an Poppers Fallibilismus reale Falsifikationen; sie legen offen, was vom Menschen noch nicht richtig erkannt und angewandt wurde, wo er sich also noch im Irrtum über sein eigenes Vermögen und die Wirkkräfte der Natur befindet. Damit sind Katastrophen letztlich die einzigen Kriterien für wahr oder falsch menschlichen Entscheidens [sic] und folglich die einzigen, wenn auch negativen Gütesiegel für die Qualität menschlichen Lernens." (183) Dombrowskys teleologisches "noch" wird allerdings schon zwei Seiten später relativiert, wenn Ortwin Renn und Andreas Klinke ihren Artikel über den gesellschaftlichen Umgang mit Naturrisiken mit der Anmerkung eröffnen, dass sich die volkswirtschaftlichen Schäden durch Naturkatastrophen von 1960 bis in die Gegenwart verachtfacht haben. Auch Heinz Wanners Beitrag über die extremen Wetterereignisse der letzten fünf Jahre deutet darauf hin, dass nicht nur menschliche Dummheit Katastrophen auslöst, sondern dass oft strukturelle Ursachen kollektives Lernen verhindern. Wanner macht deutliche Tendenzen aus, die auf einen Klimawandel hinweisen, warnt aber auch davor, die schweren Überschwemmungen und Stürme der jüngsten Vergangenheit vorschnell als Vorboten des Klimawandels zu interpretieren. Zum einen eigneten sich solche Ereignisse gerade wegen ihrer mangelnden Repräsentativität viel weniger zur Prognose als etwa Gletscherschwankungen oder langfristige Temperaturveränderungen. Zum anderen könne man erst bei extrem langen Beobachtungsperioden zu signifikanten Ergebnissen kommen. Die Problematik wird schnell ersichtlich, wenn man sich überlegt, dass für "eine Stichprobe aus 50 Jahrhundertereignissen [...] eine Beobachtungsperiode von etwa 5000 Jahren mit präzisen Einzelbeobachtungen erforderlich" ist. (13)
Gibt "Katastrophen und ihre Bewältigung" die Breite der Katastrophenforschung und -verarbeitung ebenso wie deren historische Dimension sehr gut wieder (so weit dies auf 200 Seiten möglich ist), so bleibt die im Klappentext erhoffte "ganzheitliche Betrachtung" größtenteils Desiderat. Was der Band in aller Deutlichkeit offenbart, - und das ist ein großes Verdienst - ist ausgerechnet der Mangel an Interdisziplinarität. Von der Definition des Untersuchungsgegenstandes über die angewandten Methoden bis hin zu den Ergebnissen lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass die Katastrophenforschung in den hier repräsentierten Fachrichtungen und Anwendungsbereichen nur mittels technischer Wunder durch Brücken verbunden werden kann. Vielleicht ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, hier die Integrationsarbeit zu leisten.
Uwe Lübken