Rüdiger vom Bruch: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich. Hrsg. v. Hans-Christoph Liess, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 394 S., ISBN 978-3-515-08656-1, EUR 68,00
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Gesamtdarstellungen zur Geschichte des deutschen Kaiserreiches - des Bismarck'schen wie des Wilhelminischen Reiches - haben seit Beginn der 1990er-Jahre wieder Konjunktur. Die nach der Wiedervereinigung kursierende Vorstellung von einem neuen deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas suchte, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen als 1871, nach historischen Anknüpfungspunkten, wobei etwa der Historiker Wolfgang J. Mommsen eine ambivalente Haltung vertrat, indem er einerseits das deutsche Kaiserreich als zentralen Orientierungspunkt für die nationale Identität der Deutschen wertete, andererseits aber in dem wiederentstandenen deutschen Staat nicht unbedingt eine Fortsetzung des deutschen Kaiserreiches sehen wollte.
Die in den letzten beiden Jahrzehnten publizierten Darstellungen zum Kaiserreich von den Monumentalwerken Thomas Nipperdeys, Hans-Ulrich Wehlers, Wolfgang J. Mommsens und Klaus Hildebrands über die an ein breiteres Publikum gerichtete Interpretation von Volker Ullrich [1] bis hin zu den aktuellen Neuauflagen und Neuerscheinungen [2] verdeutlichen, dass die Forschung zum Kaiserreich noch lange nicht abgeschlossen und immer wieder aktualisierbar ist. Der Historiker Rüdiger vom Bruch hat dagegen im vorliegenden Band mit insgesamt 13 Aufsätzen für die Bismarckära, vielmehr aber noch für die wilhelminische Zeit Phänomene behandelt, die in den oben genannten Werken häufig nur pauschal oder zumindest weniger detailliert ausgearbeitet werden. Es handelt sich um die Themenfelder Kulturpolitik, Bildungsbürgertum, Sozialethik und bürgerliche Sozialreform.
Der Band ist in zwei Teile untergliedert. Der Erste behandelt "Kultur und Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich", der Zweite steht unter dem Motto "Reformimpulse und Modernisierung". Die Aufsätze sind im Laufe eines Vierteljahrhunderts entstanden, wobei die beiden ältesten Beiträge aus dem Jahr 1981 stammen, jeweils ein Aufsatz dann in den Jahren 1983, 1985, 1994, 1997, 2002 und der neueste erstmalig 2003 publiziert wurde; gleich vier Beiträge stammen aus dem Jahr 1989. Auf den ersten Blick vermittelt diese Zusammenstellung den Eindruck eines teilweise überholten Forschungsstandes, doch gerade der Umstand, das neben neueren Arbeiten auch ältere Beiträge in diesem Band versammelt sind, macht - neben vielen weiteren Vorzügen - den Wert des Buches aus, führt er dem Leser doch Kontinuität und Wandel in der historischen Deutung des Kaiserreichs vor Augen.
Bei der Fülle an behandelten Details würde eine ausführliche Kommentierung der Aufsätze den üblichen Rahmen einer Rezension sprengen, doch sollen zumindest die inhaltlichen Schwerpunkte der beiden Hauptteile angesprochen werden. Im ersten Teil liegt das Augenmerk auf der kulturellen Vergesellschaftung des Kaiserreichs. Der erste Beitrag stellt unter dem Titel "Der wissenschaftsgläubige Mensch" eine Vielzahl von wissenschaftlichen Systementwürfen mit weltanschaulicher Bindekraft vor und charakterisiert ein Publikum, das die Naturwissenschaften als wegweisend für das Leben des modernen Menschen stilisierte (13). Persönlichkeiten wie Werner von Siemens, Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Adolf Harnack sowie die Nobelpreisträger Theodor Mommsen und Albert Einstein verkörperten ein Wissenschaftsethos, das der Verknüpfung von Geistes- und Naturwissenschaften Rechnung trug. Im darauf folgenden Beitrag "Kaiser und Bürger" (25-51) steht der Kulturbegriff selbst im Mittelpunkt. Für die Zeit nach 1890 zeichnet der Autor die Entstehung einer offiziösen Nationalkultur nach, die unter dem Einfluss Wilhelms II. in bisweilen grotesker Form eine beängstigende Verflechtung von Kultur und Militär zum Ausdruck brachte.
Die weiteren Ausführungen zum Kulturbegriff im Kaiserreich widmen sich insbesondere dem Bildungsbürgertum (52-83), dessen gesellschaftliche Einflussnahme über das Vereinswesen, über kirchliche, insbesondere protestantische Verbände (wie beispielsweise dem Evangelisch-Sozialen Kongreß) sowie über sozialpolitisches Engagement erfolgte. Wie breit das politische Spektrum auch innerhalb des Bildungsbürgertums war, wird an dem Umstand deutlich, dass sich seine Vertreter sowohl in radikalnationalistischen Vereinigungen wie dem Alldeutschen Verband oder dem Flottenverein finden lassen als auch in der pazifistischen Bewegung, dort allerdings in sehr viel geringerem Maße. Der Beitrag "Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften" (84-94) lässt eine gewisse kulturelle Desorientierung als Folge der wirtschaftlich prosperierenden Wilhelminischen Gesellschaft sowie eine sich deutlich vom aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum abgrenzende kulturelle Elite erkennbar werden. Ein Beitrag über "Kulturstaat - Sinndeutung von oben?" (95-132), der sich mit der kulturpolitischen Zwecksetzung des Staates auseinandersetzt, rundet den ersten Teil des Bandes ab.
Der zweite Teil des Bandes "zielt auf gesellschaftliche Reformimpulse zur inneren Integration der jungen Staatsnation und auf kulturelle Modernisierungsleistungen im Kaiserreich" (7). Der Beitrag über "Evangelische Sozialpolitiker und die Gewerkschaftsbewegung" (137-149) verdeutlicht, wie eng die evangelischen Sozialpolitiker - im Unterschied zu den katholischen - mit dem (protestantisch dominierten) bürokratisch-monarchischen Herrschaftsgefüge und dessen imperialistischen Zielsetzungen verflochten waren, wobei ihnen jedoch nur durch Bündnisse mit der Gewerkschaftsbewegung eigentlicher Erfolg beschieden war. Ein Aufsatz über "Streiks und Konfliktregelung im Urteil bürgerlicher Sozialreformer" (150-165) legt dar, dass sich auf diesem Politikfeld um 1890 eine Zäsur abzeichnete: Die öffentliche Diskussion über Arbeitseinstellungen, Koalitions- und Streikrecht, Streikstatistiken sowie die Anfänge der Gewerkschaftsbildung trägt dem Rechnung. Ein sehr breit angelegter Text über "Bürgerliche Sozialreform im Deutschen Kaiserreich" (166-272) bildet den Mittelpunkt des zweiten Teils. Er ist gegliedert in die Kapitel "Wissenschaft und Sozialreform um 1870", "Der Verein für Sozialpolitik in der Bismarckzeit", "Zum Spektrum bürgerlicher Sozialreform im Kaiserreich", worin auch der Centralverein und die Staatswissenschaftliche Gesellschaft sowie der Deutsche Verein (ab 1881) behandelt werden, und mündet schließlich in die "Bürgerliche Sozialreform" selbst, wie sie etwa der Verein für Sozialpolitik und die Gesellschaft für Soziale Reform repräsentierten. An dieser Stelle wird deutlich, wie viele Reformansätze im Kaiserreich auf verschiedenen Ebenen möglich waren. Es folgt die Abhandlung "Von der Sozialethik zur Sozialtechnologie?" (273-289), wo der Autor vor allem auf die damalige Publizistik zu diesem Thema eingeht, beispielsweise die von 1898 bis 1921 erschienene "Zeitschrift für Socialwissenschaft".
Das Gewicht verlagert sich im Teil II dann ab dem Beitrag "Internationale Forschung, Staatsinteresse und Parteipolitik" (290-301) wieder mehr auf die Kulturpolitik. Interessant ist hier vor allem, dass sich der sonst eher militärisch und weniger kulturpolitisch orientierte Wilhelm I. damals im Hinblick auf die Förderung der Olympia-Ausgrabungen gegen den Widerstand seines mächtigen Kanzlers Bismarck durchsetzte und Letzteren in seine Schranken verwies. Einem Beitrag über "Gesellschaftliche Initiativen in den auswärtigen Kulturbeziehungen Deutschlands vor 1914" (302-333) folgt der sehr interessante Aufsatz über "Kunstwart und Dürerbund" (334-349), wobei sich deutsche Ausdruckskultur im Sinne des Kunstwarts und des Dürerbundes gegen materialistisches Profitdenken und gegen künstlerische Überformung von "Lebensuntauglichkeit" richtete. Hofmalerei war plötzlich ebenso wenig aktuell wie der französische Impressionismus, während Dürer zu einer Art kultureller Leitfigur avancierte. Der abschließende Beitrag gibt einen Einblick in die publizistische Auseinandersetzung: "Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreichs" (350-394).
Die Lektüre dieser gesammelten Beiträge wird durch verschiedene Querverweise auf die im Band erfassten Aufsätze erleichtert, denn so wird ein gewisser Zusammenhang erkennbar, während im Teil II durch ein Ineinandergreifen von sozial- und kulturpolitischen Aspekten - anders als im vom Kulturbegriff dominierten Teil I - sich manchmal keine klare Linie erkennen lässt. Wünschenswert wäre u. a. eine genauere Charakterisierung Wilhelms II. - analog zum Standardwerk John C. G. Röhls [3] - gewesen, da hier deutlich wird, dass der Kaiser letztendlich mit seiner Persönlichkeit alles durchdrang und Ansätze von bürgerlichen sowie parteipolitischen Initiativen dominierte.
Lesenswert ist dieser Band jedoch schon deshalb, weil vom Bruch mit seinem umfangreichen Forschungs- und Erfahrungsfundus - seine überaus zahlreichen Publikationen belegen es - jenen Details auf den Grund geht, die zur Vollendung einer ausgewogenen Einschätzung des Kaiserreichs wesentlich beitragen. Die Ambivalenz der wilhelminischen Gesellschaft wird durch diese Beiträge erst sichtbar, die von wissenschaftlicher Durchdringung und sorgfältiger Quellenrecherche ebenso zeugen wie von der breiten Fächerung der verarbeiteten Literatur, wobei die älteren Publikationen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ebenso aussagekräftig sind wie die neueren Forschungen. Dabei beruft sich vom Bruch immer wieder gern auf den Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler Gustav Schmoller sowie den Sozialreformer Lujo Brentano gleichsam als Protagonisten. Dieses Buch ist zur Vertiefung - umfassende Grundkenntnisse zur Geschichte des Kaiserreichs natürlich vorausgesetzt - sehr zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1999.
[2] Hans-Peter Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, München 2005.
[3] John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001; s. hierzu die Rezension von Winfried Speitkamp, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/07/1805.html.
Helma Brunck