Rezension über:

Lars Bluma: Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg. Eine historische Fallstudie zur Verbindung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft (= Kritische Informatik; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, 245 S., ISBN 978-3-8258-8345-4, EUR 24,90
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Rezension von:
Frank Dittmann
Deutsches Museum, München
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Frank Dittmann: Rezension von: Lars Bluma: Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg. Eine historische Fallstudie zur Verbindung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/8570.html


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Lars Bluma: Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg

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1948 erschien die Schrift von Norbert Wiener Cybernetics or Control and Communications in the Animal and the Machine. [1] Bald wurde die Kybernetik, deren zentrale Begriffe Information, System und Rückkopplung (Feedback) sind, zu einem der meist diskutierten Theorien nach dem Zweiten Weltkrieg - und zwar sowohl in den Natur- und Technik- als auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Fast euphorisch wurden ihre Begriffe und Modelle auf die verschiedensten Phänomene in der Natur, Technik und Gesellschaft angewandt. In den 1970er-Jahren ebbte die Diskussion zwar ab, die meisten Wissensbestände fanden aber Eingang in andere Wissenschaften. Wenngleich der Begriff "Kybernetik" heute ungebräuchlich ist und nur noch in Wortzusammensetzungen mit "Cyber-" weiterzuleben scheint, ist das Interesse an ihrer Geschichte ungebrochen. In neuerer Zeit wandten sich vor allem Wissenschafts- und Technikhistoriker bzw. Medienwissenschaftler dieser Thematik zu.

Lars Bluma legte eine Dissertation über die Entstehung der Kybernetik im Kontext der amerikanischen Wissenschaftspolitik vor. Dabei geht der Autor vom sozialkonstruktivistischen Ansatz aus. Ziel der Arbeit ist nicht primär, neue Fakten zu präsentieren, sondern Bluma strebt "eine ungetrübte, kritisch analysierende Auseinandersetzung mit den eigenen Wissenschaftsfundamenten" (9) an. So will er zeigen, wie stark die Konstruktion der Kybernetik durch Hoffnungen und Ängste der amerikanischen Gesellschaft beeinflusst wurde.

Die Arbeit gliedert sich in neun Abschnitte. Schauen wir uns einzelne Kapitel genauer an: Nach der Einleitung beschreibt das zweite Kapitel, wie sich in der Nachrichtentechnik das Verständnis entwickelte, dass die negative Rückkopplung entscheidendes Strukturelement einer Regelung ist. Dabei hat der Autor vor allem den nordamerikanischen Kontext im Blick. Dieser Fokus ist verständlich, da die Kybernetik im engeren Sinne Produkt der amerikanischen Wissenschaftslandschaft ist. Allerdings bleibt die Frage, ob dadurch nicht wesentliche Elemente des Netzwerks unbeachtet bleiben. So beherrschte Wiener mehrere Fremdsprachen, pflegte vielfältige Kontakte auch zu Kollegen in Europa und hielt sich einige Male dort auf. Nicht vergessen seien die Emigranten bzw. Auswanderer, die einen Wissenstransfer in die USA leisteten - hier sollen lediglich der gebürtige Ungar John von Neumann und der Österreicher Heinz von Förster genannt werden.

Nach diesen eher technischen Ausführungen nimmt Bluma im Kapitel 3 die Transformation des amerikanischen Wissenschaftssystems während des Zweiten Weltkriegs in den Blick. Die Schlüsselfigur war dabei Vannevar Bush [2], ein Ingenieur und Wissenschaftsorganisator, der Netzwerke von Militär, Wissenschaft und Industrie knüpfte. Ganz im Sinne seines sozialkonstruktivistischen Ansatzes zeigt Bluma, dass sich dabei auch der soziale Status der Ingenieure verbesserte. Die Forschungsgelder wurden zunehmend aus Projekten, die Desiderate des aktuellen Wissensstandes reflektierten, in jene umgeleitet, die sich aus konkreten technischen und politischen Problemen ableiteten. Zugleich wurde Kriegführung als technisches Problem umdefiniert: "Die Entwicklung solch hochkomplexer technischer Systeme, wie Radar oder Flugabwehrsysteme, fanden nicht mehr im Elfenbeinturm der Universitäten statt, sondern in einem Netzwerk von heterogenen Akteuren: Forschern, Militärs, Politikern und den technischen Artefakten" (64).

Nach dieser übergreifenden Betrachtung wendet sich Bluma im Abschnitt 4 den konkreten Verhältnissen am MIT und seinem Protagonisten Norbert Wiener zu. Das MIT setzte die neue Doktrin der praxisorientierten Forschungsförderung rasch durch, was es Wiener gestattete, seine eigenen Arbeiten in ganz unterschiedliche Zusammenhänge zu stellen. Zentral war dabei die Kategorie "Information", mit der eine neue naturwissenschaftliche Entität neben Stoff und Energie geschaffen wurde. Informationsmenge ist dabei letztlich eine statistische Aussage zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Zeichen. [3] Einerseits wird so Kommunikation auf deren messbaren Charakter reduziert, damit verschwinden aber solche für die menschliche Kommunikation entscheidenden Aspekte wie Semantik oder Redundanz - ein Manko, das die Kybernetik trotz großer Anstrengungen nicht überwinden konnte. Andererseits war es erst durch diese Reduktion möglich, Mensch und Maschine gleichermaßen als informationsverarbeitende Systeme anzusehen.

Viele Details der Entwicklung kybernetischer Ideen am MIT sind keineswegs neu, aber der Autor versucht sie konsequent aus der Perspektive des Social Construction of Technology zu deuten. Dabei rückt Bluma seinen Protagonisten Norbert Wiener weit in den Mittelpunkt, während Kollegen und Mitarbeiter eher blass bleiben.

Im 5. Abschnitt wendet sich Bluma dem internen Diskurs in der Kybernetik zu, der insofern entscheidend war, als deren Kernkonzepte ganz unterschiedlichen epistemologischen Kontexten und Traditionen entsprangen. Während Rückkopplung und Information aus den Ingenieurwissenschaften stammten und Entropie aus der Thermodynamik des 19. Jahrhunderts, wurde das Konzept der Homeostase aus der Biologie entnommen. Durch formale Abstraktion verloren die kybernetischen Begriffe die jeweilige epistemologische Tradition. Diese Abstraktion ermöglichte die Übertragung auf andere Wissensbereiche, die Begriffe blieben aber unscharf. Diese Uneindeutigkeit schuf wiederum Anschlussmöglichkeiten zu den Sozialwissenschaften. So wandten sich bereits in den 1950er-Jahren der Soziologe Paul Lazarsfeld oder die Anthropologen Margaret Mead und Gregory Bateson der Diskussion zu und brachten manche Korrektur an.

In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde die Kybernetik auch von der Debatte über die Verantwortung von Wissenschaft und Technik erfasst, der sich Bluma im Abschnitt 7 widmet. Konkret geht es dabei um Nutzen und Gefahren von automatisierten Fabriken bzw. der Computertechnik im Allgemeinen, wobei Bluma vor allem Wieners soziales Gewissen in den Mittelpunkt der Darstellung rückt.

Im vorletzten Abschnitt beschäftigt sich der Autor mit dem Rückfluss des kybernetischen Wissens in die Ingenieurwissenschaften, wobei die Herausbildung des "Systems Engineering" in den USA der 1950er- und 1960er-Jahre als Beispiel dient. Diese neue Ingenieurwissenschaft integrierte vielfältige Aspekte der Kybernetik, um so die Ausdifferenzierung in technische Subdisziplinen zu überwinden. Zugleich ging aber der universelle Anspruch der Kybernetik verloren, deren Wurzeln auch außerhalb der Technik liegen, sodass die tradierten Disziplingrenzen zwischen den Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften nicht aufgeweicht werden konnten. Dieses interessante Kapitel ordnet sich etwas unorganisch in das Buch ein. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in der Nutzung anderer Quellen als zuvor, wie Bilder oder Zeitschriftenanzeigen. Deren Analyse zeigt, dass Blockdiagramme, die ursprünglich der technischen Beschreibung eines Prozessablaufs dienen, soziale Funktionen übernahmen: "Die Stilisierung des Systemingenieurs als Experte, der mit dem Design kybernetischer Sachsysteme die Sicherheit der USA garantiere, folgte einem während des Zweiten Weltkrieges entstandenen Topos vom Ingenieur als technokratischen Soldaten der Heimatfront" (207).

Der Band ist gut lesbar geschrieben und die Argumentation nachvollziehbar. Ein Register hätte den Zugriff auf eine Fülle von Details erleichtert. Insgesamt liegt der Wert der Arbeit nicht so sehr in der Darstellung gänzlich neuer Fakten, sondern in der konsequenten Anwendung des Sozialkonstruktivismus auf einen inzwischen gut untersuchten Gegenstand. Durchaus schlüssig kommt Bluma zu dem Ergebnis: "Die Kybernetik konstruierte ihren Gegenstand vielmehr von dem Moment an, als sie eine Methode fand, um aus den übereinstimmenden Übersetzungsregeln eine Theorie zu bauen [...]. Die Kybernetik sollte sich als eine konstruierende Wissenschaft erweisen" (144).


Anmerkungen:

[1] Norbert Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge/Mass. 1948; Deutsch: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf Wien 1963.

[2] Pascal G. Zachary: Endless frontier. Vannevar Bush, engineer of the American Century, Cambridge, Mass. 1999.

[3] C. E. Shannon: A mathematical theory of communication, in: The Bell System Techn. Journal 27 (1948), 3.

Frank Dittmann